Glyphosat, Demokratie und Gerechtigkeit Und warum uns die Bezüge zwischen ihnen 2018 mehr denn je interessieren sollten

Gerechtigkeit ist immer wieder ein Thema in Gesprächen und Diskussionen, im Alltag, in der Politik und in den Medien. Dabei stellt sich die Frage, was für eine Art von Gerechtigkeit überhaupt gemeint ist: Verteilungsgerechtigkeit, die sich zum Beispiel auf die Verteilung von Vermögen in und zwischen Gesellschaften beziehen kann, prozedurale Gerechtigkeit, die zum Beispiel auf die Gleichbehandlung von Mitgliedern einer Gesellschaft durch Gerichte hinweisen würde, oder auch Teilhabegerechtigkeit, die auf die Möglichkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft aktiv in dieser Gesellschaft zu leben und diese mitzugestalten blicken würde. Hinsichtlich all dieser Arten von Gerechtigkeit finden sich in unserer heutigen Demokratie grundsätzliche Herausforderungen und zum Teil gravierende Missstände. Der Glyphosatskandal, d.h., dass Christian Schmidt als geschäftsführender Agrarminister im Alleingang und gegen die Regierungsweisung in Brüssel für eine weitere Zulassung dieser für Mensch und Tier höchst schädlichen Chemiekeule gestimmt hat, hat vor allem mit Teilhabegerechtigkeit zu tun. (Wer mehr zur Schädlichkeit von Glyphosat erfahren will, kann sich diese Dokumentation anschauen)

Wer gestaltet heute unsere Politik und damit unsere Gesellschaft? Dem Gesetz nach leben wir in einer Demokratie, in welcher einer Definition von Abraham Lincoln zufolge das Volk „durch das Volk und für das Volk“ regiert werde. Aber ist das auch so? Hat Christian Schmidt in Brüssel im Interesse der deutschen Bevölkerung abgestimmt? Wohl kaum, denn Umfragen in Deutschland zeigen, dass die Mehrheit Glyphosat ablehnt. Ähnlich war es unter anderem mit der Zulassung von genetisch manipuliertem Saatgut. Hier hatte die letzte Bundesregierung sich in Brüssel bei einer entscheidenden Abstimmung enthalten und damit eine Verlängerung des Anbauverbots verhindert, obwohl auch hier die deutsche Bevölkerung mehrheitlich eine völlig andere Position bezieht. Auch die Handelsabkommen mit Kanada (CETA) oder den USA (TTIP) wurden von der Bundesregierung in Brüssel unterstützt, unter anderem von Martin Schulz in seiner damaligen Rolle als Präsident des Europäischen Parlaments, und das trotz massiver Proteste in Deutschland. Ähnlich „überraschendes“ Verhalten unserer Politikerinnen und Politiker gibt es natürlich nicht nur in Brüssel, sondern auch in Berlin: So wird aus der „Samthandschuh-Behandlung“ des deutschen Autobauers VW durch die Politik im Zuge des Abgasskandals deutlich, wie verstrickt Politik und Wirtschaft in der Automobilindustrie sind.

Warum gibt es diese politischen Entscheidungen und warum stehen sie dermaßen konträr zur mehrheitlichen Meinung von Bürgerinnen und Bürgern? Eine mögliche Antwort darauf ist, dass die Politikerinnen und Politiker einfach besser wissen, was für uns gut ist. Der griechische Philosoph Platon hatte aus diesem Grund einmal von einer Republik, die durch einen Rat der Weisen regiert wird, geträumt. Eine andere mögliche und aus meiner Sicht überzeugendere Antwort ist jedoch, dass die Interessen Einzelner bzw. Weniger übermäßig viel Gehör bei unseren Politikerinnen und Politikern finden. Die Verlängerung des Glyphosateinsatzes wurde insbesondere von der Agrar- und Chemielobby gewünscht. Der Bauernverband betonte explizit, dass diese Entscheidung seinen Wünschen entsprochen habe. Auch Monsanto, Bayer und andere Konzerne profitieren als Hersteller, obgleich sie die EU-Entscheidung vielleicht lieber nicht so öffentlich feierten wie der Bauernverband.

Aber warum haben diese „Partikularinteressen“, wie sie in politikwissenschaftlichen Untersuchungen zu demokratischen Prozessen genannt werden, so viel Einfluss? Das liegt unter anderem daran, dass Geld in verschiedenster Hinsicht eine enorme Rolle in unserer Politik spielt. Diese Rolle reicht von Parteispenden oder das sogenannte „Sponsoring“ von politischen Veranstaltungen, über die Nebeneinkünfte von Politikern und Politikerinnen und die Beeinflussung der politischen Debatte durch Lobbying, bis zur öffentlichen Meinungsformung durch Medienkampagnen oder Sponsoring im privaten oder zum Beispiel auch schulischen Bereich. Auch die gezielte Förderung und Verbreitung wissenschaftlicher Untersuchungen im Interesse der Auftraggebenden spielt hier eine wesentliche Rolle, die sowohl dem Lobbying von Politikerinnen und Politikern als auch der Beeinflussung der öffentlichen Meinung nützt. Der Stellenwert von Geld in unserer Demokratie bedeutet wiederum, dass insbesondere transnationale Konzerne und manche Verbände sehr viel politischen Einfluss ausüben können. Zwar gibt es einige Regularien, zum Beispiel Registrierungsvorschriften für Lobbyisten oder Anforderungen zur Veröffentlichung von Nebeneinkünften. Doch diese Regularien erfassen die meisten Wege, über die Geld die Politik beeinflusst, nicht – und die, die sie erfassen, erfassen sie vollkommen unzulänglich. Insofern ist die Einflussnahme von Konzernen und manchen Verbänden in der heutigen Politik so umfangreich und facettenreich, dass wir uns in den nächsten Wochen und Monaten öfter und differenziert in diesem Blog damit auseinandersetzen werden.

Natürlich bestimmt Geld nicht allein, was in der Politik entschieden wird. Auch Ideen und Wertvorstellungen spielen zum Beispiel eine Rolle. (Wobei insbesondere im Zeitalter der privaten Medien Geld natürlich auch beeinflusst, welche Ideen und Werte uns besonders häufig und in besonders attraktiver Darstellung begegnen.) Nichts desto trotz wäre es sicherlich naiv zu glauben, dass Konzerne und Verbände all das Geld in Aktivitäten zur Beeinflussung von Politik und Öffentlichkeit stecken würden, wenn sie nicht davon ausgingen, damit eigene strategische Ziele tatsächlich auch erreichen zu können.

Diese Kritik an der bestehenden Ungerechtigkeit was Teilhabe bei der Gestaltung von Politik und Gesellschaft betrifft, heißt jedoch im Umkehrschluss nicht, dass ich dafür plädieren würde, die Demokratie abzuschaffen. Ich kenne kein besseres politisches System, und es wäre noch naiver von guten und weisen Diktatorinnen oder Diktatoren zu träumen. Auch Populistinnen und Populisten versprechen vielleicht, den politischen „Sumpf“ trocken zu legen, bieten aber, wie man bei Donald Trump sieht, seltenst ein Bollwerk gegen eine Einflussnahme finanzstarker Akteure.

Stattdessen ist es dringend notwendig, unsere Demokratie zu stärken! Wir brauchen mehr Gerechtigkeit hinsichtlich der Möglichkeiten unsere Gesellschaft, unser Leben in dieser Gesellschaft jetzt und in der Zukunft, zu gestalten. Dazu wiederum müssen wir die Rolle des Geldes in der Politik zurückdrängen. Wir müssen dafür sorgen, dass manche Wege, über die Geld Einfluss nimmt, verschlossen werden, und dass die existierenden Regularien für andere umfassender, und stringenter werden, um mindestens ein Höchstmaß an Transparenz hinsichtlich politischer Einflussnahme zu erzielen.

Wir? Ja tatsächlich wir, denn niemand sonst wird es tun. Und das heißt mehr als wählen zu gehen. Hierfür gibt es unterschiedliche Wege: Politikerinnen und Politikern müssen von uns hören (und wollen das auch!). Das geht über eine direkte Kontaktaufnahme oder über Organisationen, die hierfür zum Beispiel Onlineverfahren anbieten, wie democracy.de oder change.org. Wir können und sollten uns in Gruppen, die unsere Interessen vertreten, einbringen. Das können Gruppen in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen oder natürlich auch Parteien selbst sein. Und schließlich sollten wir natürlich auch Position beziehen, zum Beispiel in den (sozialen) Medien, damit unsere Interessen gehört werden können. Wahlbeteiligung ist wichtig, reicht aber nicht. Keine Zeit für mehr? Dann regieren Andere!

 

Hinweis:

Übrigens gibt es demnächst eine von Campact organisierte Demo gegen Glyphosat: „Wir haben es satt“ am 20. Januar in Berlin. https://blog.campact.de/2017/12/glyphosat-deutschland-kann-noch-schluss-machen/

 

Zum Weiterlesen- und sehen:

Aus den Medien:

Das Erste. 2014. „Elvira Drobinski-Weiß, SPD, zur Genmais-Zulassung“ https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video1372196.html

Deutsche Wirtschafts-Nachrichten. 2013. „Lebensmittel: Wie Monsanto heimlich die EU unterwandert“. deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/05/01/lebensmittel-wie-monsanto-heimlich-die-eu-unterwandert/

Die Zeit. 2017. „Lobbyist nimmt an Gesprächen über Energiepolitik teil.“ http://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/stefan-kapferer-fdp-sondierungsgespraeche-klimapolitik

Frankfurter Rundschau. 2017. „Klammheimlicher Boykott gegen VW“. http://www.fr.de/politik/meinung/gastbeitraege/abgas-skandal-klammheimlicher-boykott-gegen-vw-a-1313019

Stern. 2017. „Durch die Drehtür: Als Abgeordneter raus, als Lobbyist wieder zurück.“ http://www.stern.de/politik/deutschland/tillack/bundestagswahl–abgewaehlte-abgeordnetekehrenoft-als-lobbyisten-zurueck-7647282.html

 

Aus der Wissenschaft:

Fuchs, Doris. 2017. „Windows of Opportunity for Whom? Commissioners, Access, and the Balance of Interest in European Environmental Governance“. social sciences 6, 73, doi: 10.3390/socsci6030073.

Fuchs, Doris, Tobias Gumbert, und Bernd Schlipphak. 2017. „Euroscepticism and Big Business”. In Leruth, Benjamin, Nicholas Startin und Simon Usherwood (Hrsg.). The Routledge Handbook of Euroscepticism. London: Routledge.

Fuchs, Doris, und Antonia Graf. 2015. „Interessenvertretung in der globalisierten Welt.“ In Zimmer, Annette, und Lothar Speth (Hrsg.). Lobbywork. Interessenvertretung als Politikgestaltung. Heidelberg: Springer, 97-120.

Heimbach-Steins, Marianne. 2011. „Gerechtigkeitstheorien und Zielvorstellungen von Gesellschaft“. In Dabrowski, Martin, und Judith Wolf (Hrsg.). Gleichheit, Ungleichheit, Gerechtigkeit. Paderborn: Schöningh, 85-110.

3 Kommentare

[…] _; Bohn, Carolin. “Universitäten – ein Sprungbrett für die Umsetzung von Nachhaltigkeit?” (21. Juni 2018); „Katholikentag in Münster! – ein Hinweis für alle Besucherinnen und Besucher“ (08. Mai 2018); „Mehr Zeit, weniger Arbeiten – Will das jemand?“ (19. April 2018); „Glyphosat, Demokratie und Gerechtigkeit – und warum uns die Bezüge zwischen ihnen 2018 mehr denn je interessieren sollten“ (09. Januar 2018), Beiträge für den Blog „Nach(haltig)gedacht“ des ZIN (http://nach-haltig-gedacht.de/2018/06/21/universitaeten-ein-sprungbrett-fuer-die-umsetzung-von-nachhaltigkeit/, http://nach-haltig-gedacht.de/2018/05/08/katholikentag-in-muenster-ein-hinweis-fuer-alle-besucherinnen-und-besucher/, http://nach-haltig-gedacht.de/2018/04/19/mehr-zeit-weniger-arbeiten-will-das-jemand/, http://nach-haltig-gedacht.de/2018/01/09/glyphosat-demokratie-und-gerechtigkeit-und-warum-uns-die-be&#8230😉 […]