Wohlstand neu denken – Wachstum hinterfragen

Wenige Ideen scheinen in unseren westlichen Gesellschaften so verbreitet wie der Gedanke, dass Wachstum gleichbedeutend mit Fortschritt und Freiheit ist. Nur eine Wirtschaft, die stetig wächst, immer mehr Auswahl und immer bessere Produkte bietet, ist auch eine funktionierende Wirtschaft und zum Wohlergehen einer Gesellschaft unabdingbar. Diese Maxime ist in der Politik so tief verankert, dass kaum eine politische Handlung – vom Klimaschutz über die Aufnahme von Geflüchteten bis hin zu Reformen des Bildungssystems – ohne den Verweis auf ihren zentralen Beitrag zum Wirtschaftswachstum auskommt. Die Steigerung des Bruttoinlandsproduktes (BIP), das zentrale Messinstrument der Wirtschaftsleistung, scheint das magische Argument zu sein, welches viele Mittel rechtfertigt und keiner weiteren Erklärung bedarf. Doch welche Rolle spielt Wirtschaftswachstum in unserer Gesellschaft wirklich? Und ist eine steigende Wirtschaftsleistung auch ein angemessener Indikator für eine glückliche Gesellschaft und ihren Wohlstand?

Das Bruttoinlandsprodukt – Maßstab einer glücklichen Gesellschaft?

Das BIP gibt den Gesamtwert der Waren und Dienstleistungen an, die innerhalb eines Jahres in einem Land hergestellt wurden. Es dient in einer Vielzahl von Staaten weltweit dazu die Wirtschaftsleistung messbar und somit auch bewertbar zu machen. Die Veränderung des BIP im Vergleich zum Vorjahr gibt an wie groß das Wirtschaftswachstum bzw. der Wirtschaftsrückgang ist. Dadurch, dass das BIP bestimmt wie Wirtschaftsleistung berechnet wird, hat es gleichzeitig Einfluss darauf, wie Wirtschaft überhaupt verstanden wird. Es legt fest welche Aspekte als wichtig erachtet werden und in der Rechnung auftauchen und welche nicht. Dabei werden die Grenzen des Indikators BIP schnell deutlich, welcher lediglich Waren und Dienstleistungen, denen ein gewisser Geldwert zugeschrieben wird, berücksichtigen kann.

Die Schwierigkeit liegt nun nicht am BIP selbst – es misst lediglich das, was es messen soll – sondern darin, welche Bedeutung ihm zugeschrieben wird. Wird in der Politik die Steigerung des BIP immer wieder als zentrales Mittel und wichtige Voraussetzung zur Erreichung von gesellschaftlichen Zielen, wie der Reduzierung von sozialen Ungleichheiten oder der Instandhaltung wichtiger Infrastruktur, dargestellt, kommt es zu einer gewissen Gleichsetzung von Wirtschaftswachstum mit zentralen sozialen Zielvorstellungen. Das BIP-Wachstum wird somit stark symbolisch aufgeladen und scheint die Realisierung einer ganzen Reihe weiterer Ziele zu beinhalten, unabhängig davon ob dies der Fall ist oder nicht. Auf diese Weise wird das Idealbild einer guten Gesellschaft untrennbar mit einem stetigen Wirtschaftswachstum verbunden, gemessen über die Steigerung des BIP. Das Problem besteht nun darin, dass viele Faktoren, die als zentral für das Wohlergehen und den Wohlstand einer Gesellschaft verstanden werden können, wie die gerechte Verteilung von materiellen Gütern, Gesundheit, sozialer Zusammenhalt oder eine intakte Umwelt in diesem Messinstrument nicht berücksichtigt werden können. All diese Faktoren tauchen im BIP nicht auf, da ihnen kein Geldwert zugeordnet ist.

Doch nicht nur für solche zentralen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist das BIP blind. Auch die langfristigen und verheerenden Kosten im sozialen und ökologischen Bereich, wie etwa die Verseuchung von Böden und Gewässern, der Verlust von Pflanzenarten, oder ausbeuterische Produktionsbedingungen weltweit, werden nicht eingerechnet. Nichtsdestotrotz ist der Wachstumsimperativ nur zu Lasten eben dieser ökologischen und sozialen Kosten überhaupt verfolgbar. Auch die Tatsache, dass zerstörerische Naturkatastrophen durch etwa den Wiederaufbau von Infrastrukturen das BIP steigen lassen oder aber gesellschaftlich zentrale Arbeiten, wie unbezahlte Haushalts- und Pflegearbeit, nicht einberechnet werden, sind lediglich zwei weitere paradoxe Seiten des Indikators BIP. Die Beurteilung einer Wirtschaft ausschließlich über ihr BIP-Zuwachs stellt somit alles in allem ein unvollständiges und kurzgegriffenes Instrument dar.

Grenzen des grenzenlosen Wachstums

Neben der Frage, wie Wirtschaften messbar gemacht und beurteilt werden, sollte ebenfalls bedacht werden, inwiefern die Zielvorstellung eines stetigen Wirtschaftswachstums überhaupt realisierbar ist. Die Antwort ist ebenso einleuchtend wie ernüchternd: Wirtschaften, welche auf endlichen Ressourcen beruhen, sind ebenfalls endlich. Diese Erkenntnis lieferte bereits 1972 der Club of Rome mit der Veröffentlichung des Berichts „Die Grenzen des Wachstums“. Das aktuelle globale Wirtschaftssystem, das maßgeblich auf die begrenzten Vorkommen von fossilen Brennstoffen, z.B. Erdöl, Kohle und Erdgas, angewiesen ist, kann nicht unbegrenzt wachsen. Auch scheinbare Alternativen wie das sogenannte „grüne Wachstum“ können sich nicht von dem Problem der Endlichkeit der Ressourcen, auf denen sie basieren, trennen. Die vermeintliche Loslösung der wirtschaftlichen Produktion vom Ressourcenverbrauch, etwa durch Effizienzsteigerung, ist illusorisch. Studien belegen, dass der Effekt der Ressourceneinsparung häufig durch beispielsweise gestiegenen Konsum aufgehoben wird. Auch wenn die neuesten Autos in Herstellung und Gebrauch deutlich effizienter sind und weniger Ressourcen benötigen als noch vor 50 Jahren, fahren heutzutage immer mehr Menschen immer häufiger Auto und verbrauchen somit letztendlich mehr Ressourcen.

Die Wachstumslogik ist tief verankert – in Wirtschaft, Gesellschaft und jeder/jedem Einzelnen

Doch wenn die Logik des unendlichen Wirtschaftswachstums offensichtlich nicht haltbar ist und das BIP viele zentrale Aspekte des Wohlergehens einer Gesellschaft ausblendet, warum ist es so schwer sich von dieser Idee zu lösen? Weil sie allgegenwärtig ist. Nicht nur in der Wirtschaft gilt Wachstum und Profitsteigerung als oberste Maxime und wird in der Politik als absolutes Ziel angepriesen. Auch im alltäglichen Handeln ist die Wachstumslogik der Wirtschaft tief verankert. Fortschritt, Optimierung und Steigerung betreffen längst nicht nur die ökonomische und politische Sphäre, sondern werden auch auf das individuelle Leben angewendet.

Viele Entwicklungen der letzten Jahrzehnte, nicht zuletzt steigender Wohlstand, aber auch Globalisierung und Digitalisierung, haben zu einer Vervielfältigung von Handlungsmöglichkeiten beigetragen. Zunehmend losgelöst von etwa traditionellen und starren Strukturen und Denkmustern, können Lebensläufe (zumindest in Teilen) der Gesellschaften weitgehend individuell entworfen werden. Damit einher geht auch, dass die Sinn- und Zielvorstellungen jeder/jedes Einzelnen, also was Wohlergehen, Wohlstand und ein erfülltes Leben überhaupt bedeutet, selbst ausgehandelt werden müssen. Somit scheint jeder Mensch für seine Lebens- und Glückserfüllung selbst verantwortlich zu sein und hat damit nicht nur die Chance, sondern im Sinne der Wachstumslogik, auch die Pflicht „das Beste“ aus ihrem/seinem Leben zu machen. Die unaufhaltsamen Tendenzen des Strebens nach Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung, die sich allein an der Fülle der heutigen Lebensratgeber-Bücher und Selbstfindungs-Workshops feststellen lässt, ist symbolisch für viele westlichen Gesellschaften. Die Idee des noch-optimierbaren Lebens und des über-sich-hinauswachsenden Menschen spiegelt deutlich den Wachstumsimperativ wider, der Stillstand als fatal ansieht und nicht selten in Überlastung gipfelt. Das oberste Ziel ist nicht die Erreichung eines „guten Lebens“, sondern eines „noch besseren Lebens“.

Zufriedenheit, gerechte Verteilung und Umweltschutz als neue Maßstäbe

Dass eine glückliche Gesellschaft nicht allein durch ein wachsendes BIP bestimmt werden kann und in Ländern mit einer hohen Wirtschaftswachstumsrate zunehmend auch Effekte wie hoher Leistungsdruck, Überforderung und daraus resultierende psychische Belastungen zu beobachten sind, lässt sich unter anderem an der Zunahme von Depressionen und Burnouts feststellen. Alternative Konzepte zur Messbarmachung des Wohlstands von Gesellschaften, wie etwa der Happy-Planet-Index, versuchen aus diesem Grund beispielsweise die wahrgenommene Zufriedenheit der Menschen mit in ihre Berechnungen einzubeziehen. Neben der durchschnittlichen Lebenserwartung und dem ökologischen Fußabdruck misst er das empfundene Wohlergehen der Bevölkerung und berechnet, wie ungleich diese Werte in der Gesellschaft verteilt sind. Die USA, mit dem größten BIP der Welt, sind weit abgeschlagen auf Platz 108 von 140, während Costa Rica nach dem Happy-Planet-Index am besten abschneidet.

Ausbrechen aus dem Wachstumsimperativ

An vielen Stellen wurde hervorgehoben, dass vom Wirtschaftswachstum eines Landes nicht direkt auf die Zufriedenheit und das Wohlergehen einer Gesellschaft geschlossen werden kann, und somit die Orientierung am BIP-Wachstum als zentraler Maßstab zahlreiche Schwächen aufweist. Zudem machen das illusorische Ziel des grenzenlosen Wachstums und seine zerstörerischen Effekte nicht nur deutlich, dass eine Lossagung vom Wachstumsimperativ aufgrund von natürlichen Grenzen zwangsläufig notwendig ist, sondern auch, dass die hohen sozialen und ökologischen Kosten die Abkehr von der Maxime ‚Wachstum um jedem Preis‘ zu einer ethischen Frage machen. Da aber die Wachstumslogik nicht nur tief in den Strukturen unserer Gesellschaften verankert ist, sondern auch in den Menschen, die in diesen leben, ist einerseits ein radikales Umdenken erforderlich, was bei jeder/jedem Einzelnen beginnt. Andererseits muss dieses Umdenken aber auch auf institutioneller Ebene stattfinden. Insbesondere in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist ein konsequentes Infragestellen des scheinbar unantastbaren Wachstumsimperativs sowie eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Frage, was zum gesellschaftlichen Wohlergehen und Wohlstand gehört, notwendig. Dies würde beispielsweise auch bedeuten, dass Fragen der Verteilungsgerechtigkeit oder des Umweltschutzes nicht länger durch das Universal-Argument des Wirtschaftswachstums abgewiegelt werden können.

 

Zum Weiterlesen:

Arte Dokumentation (2014). Wachstum, was nun?

Deutschlandfunk (2012). Unendliches Wachstum ist in einer endlichen Welt nicht möglich. Harald Welzer im Gespräch mit Dina Netz.

Naomi Klein (2015). Kapitalismus vs. Klima. Frankfurt: Fischer-Verlag.

Niko Paech (2012). Befreiung vom Überfluss. Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. München: Oekom Verlag.

 

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