Die Debatte um Stickstoffdioxid-Grenzwerte Abseits von Erzählungen einer nachhaltigen, gerechten Mobilitätswende

Deutschland diskutiert über die Sinnhaftigkeit von Grenzwerten für Luftschadstoffe –Erzählungen einer gerechten und nachhaltigen Mobilität der Zukunft gehen dabei verloren

Eine von rund 100 Lungenfachärzt*innen getragene Stellungnahme zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Feinstaub- und Stickoxidbelastung hat ein immenses öffentliches Echo zur Angemessenheit von Grenzwerten für Luftschadstoffe ausgelöst (siehe beispielsweise hier). Einige gesellschaftliche Akteur*innen, darunter Politiker*innen, sowohl von Oppositionsparteien als auch in Regierungsverantwortung, nahmen diese Stellungnahme als Anlass, die geltenden Grenzwerte zur Diskussion zu stellen. Schnell regte sich aber auch Widerstand von Fachkolleg*innen und Berufsverbänden, die die Thesen mit eigenen Forschungsergebnissen zu widerlegen versuchten und auch von Wissenschaftsgesellschaften, für die die Debatte ein Alarmsignal für den Vertrauensverlust in wissenschaftliche Forschung darstellt (siehe z. B. Science Media Center 2019). Aus dieser Sicht ignoriert und missinterpretiert die Kritik an den Grenzwerten die über lange Zeit hinweg entwickelten Erkenntnisse über Risiken von Luftschadstoffen.

Dass die durch die EU festgelegten Grenzwerte für Luftschadstoffe endgültig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, verwundert nicht. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Bundesregierung angekündigt, zu prüfen, ob die Grenzwerte für Stickstoffdioxid nicht flexibler betrachtet werden könnten. Der Hintergrund: Im Laufe des Jahres 2018 hatten verschiedene deutsche Großstädte aufgrund anhaltend schlechter Messwerte Fahrverbote für Dieselfahrzeuge angekündigt (siehe auch den Blogartikel: „Fahrverbote als Chance für mehr Lebensqualität in Städten?“).

Die augenscheinlich durch Fahrverbote beschnittenen Rechte von Autofahrenden und anderen auf Mobilität angewiesenen Menschen erfahren in der öffentlichen Wahrnehmung immense Aufmerksamkeit. Einige Sorgen, etwa die Auswirkungen höherer Preise für sozial Benachteiligte oder die Erreichbarkeit sozialer Angebote, sind nicht unbegründet. Sie werden aber in einer verallgemeinernden, medial ausgetragenen Debatte um das ‚Recht auf freie Fahrt‘ mitgerissen. Dabei bleibt weitestgehend außen vor, dass auch die Fahrverbote eine Reaktion auf soziale und gesundheitsbezogene Ungerechtigkeiten sind: Luftbelastung ist nicht nur weitestgehend unsichtbar, sie betrifft auch verschiedene gesellschaftliche Schichten ungleichmäßig.

Letztendlich ist die Debatte auch nicht auf Fahrverbote und auf Deutschland beschränkt: Die Diskussion um ein allgemeines Tempolimit auf Autobahnen, die Bereitstellung von Parkraum in Innenstädten, aber letztendlich auch die so genannten „Gelbwesten“-Proteste in Frankreich, ursprünglich gegen eine Erhöhung der Benzin-Steuer, folgen einer ganz ähnlichen Logik.

Grenzwerte, Gerechtigkeit und Fragen des guten Lebens

Wissenschaftliche Erkenntnisse (im Hinblick auf Gesundheitsfolgen) sind natürlich nicht rein beliebig, tatsächlich aber meist von Unsicherheiten geprägt. Aus dem Feld der Umweltgerechtigkeit ist daher das so bezeichnete ‚Vorsorgeprinzip‘ in Europa auf politische Entscheidungen übertragen worden (siehe u. a. Agyeman 2005). In aller Regel muss zum Beispiel nicht nachgewiesen werden, dass eine Emission schädlich für die Gesundheit oder die Umwelt ist. Die Beweislast ist umgekehrt: Solange nicht eindeutig bewiesen ist, dass eine Emission nicht schädlich ist, sind Maßnahmen wie zum Beispiel Grenzwerte und daran anschließende Beschränkungen grundsätzlich eine Option. Der aus gesundheits- und umweltwissenschaftlicher Perspektive gebotenen Vorsorge wird allerdings die politische Forderung einer ökonomischen und sozialen Verhältnismäßigkeit entgegengestellt. Auch die Interessen der potenziell von Einschränkungen Betroffenen sollen damit berücksichtigt werden.

Die Grenzwertsetzung ist dementsprechend kein rein wissenschaftliches, auf ein klares Ziel gemünztes Unterfangen, sondern immer auch ein politischer Aushandlungsprozess. Daran entzündet sich momentan die Debatte über die generelle Sinnhaftigkeit und die Höhe von Stickstoffdioxid-Grenzwerten sowie die damit zusammenhängenden Dieselfahrverbote. Vor der Öffentlichkeit wird wechselseitiges Fingerzeigen und Anschuldigen betrieben (Stichwort „Blame Game“, siehe Hood 2011), an dem sich unterschiedlichste Akteur*innen beteiligen. Die öffentliche Debatte entwickelt sich dabei zu einem nur schwer durchschaubaren Gewirr aus teilweise populistischen Einlassungen, Vereinnahmungen von Begriffen und verkürzten Darstellungen von Argumenten.

Vermutlich ist der Grund für die Emotionalität der Debatte gar nicht die Frage, wie hoch der Grenzwert sein soll oder ob es überhaupt einen geben muss, sondern die Frage nach der „guten“ sozialen Ordnung und damit in Verbindung gebrachter Lebensstile (siehe beispielsweise Thompson et al. 1990). Ein auto-abhängiger Lebensstil wird als notwendig, als ein Kulturgut und damit als ein Anrecht wahrgenommen. Die Vertreter*innen dieses Lebensstils und ihre institutionellen Verfechter*innen, darunter politische Mandatsträger*innen und Parteien, sehen damit ihr Bild von guter sozialer Ordnung in Frage gestellt: Die Grenzwerte seien unverhältnismäßig und damit nicht verantwortbar. Die Gegenseite wiederum führt ins Feld, dass die Automobilindustrie zu betrügerischen Mitteln gegriffen habe (Stichwort: „Dieselskandal“), um genau diesen Lebensstil vor dem Hintergrund der politischen Neubewertungen von Risiken zu sichern, was letztendlich zu einer Gesundheitsgefährdung großer Bevölkerungsteile führe. Ungerechtigkeiten würden durch diese Aufrechterhaltung des auto-zentrierten Lebensstils beständig reproduziert.

Was jetzt nötig ist: Erzählungen einer nachhaltigen, gerechten Mobilität

Durch diese von allen Seiten äußerst emotional geführte Debatte um Grenzwerte und Dieselfahrverbote gerät die dahinterliegende Problematik, dass städtische Mobilitätssysteme allerorts an ökologische und lebensqualitätsbezogene Grenzen stoßen, vollkommen aus dem Blick. Die Debatte wird keine Lösung für die Luftqualitätsproblematik im Allgemeinen hervorbringen, keine Lösung für das Problem der Flächenkonkurrenz und auch keine Lösung für die Problematik der CO2-Emissionen und damit des Klimaschutzes. Allerdings lenkt sie den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit weg von diesen Problemstellungen und führt zu einer verstärkten Polarisierung der Bevölkerung im Hinblick auf Fragen von Mobilität. Der hier ohnehin bereits bestehende Stillstand bei Reformen und konkreten Planungsprojekten wird dadurch zementiert, die Chance für eine kooperative, inklusive, zukunftsbezogene und bewusste Gestaltung von städtischen Mobilitätssystemen verringert.

Kritiker*innen von Grenzwerten und verkehrspolitischen Interventionen gelingt es augenscheinlich ein Szenario davon zu zeichnen, was es durch Eingriffe bald nicht mehr geben könnte: (Diesel)Autos in Innenstädten oder 200 km/h auf der Autobahn. Geschürt wird so eine Verlustangst davor, nicht mehr mobil zu sein, Freiheit und Flexibilität zu verlieren. Eine Mobilitätswende und ihre Akzeptanz sind deshalb daran gebunden, diesen Ängsten und Szenarien eigene Bilder, Imaginationen, entgegenzusetzen (siehe beispielsweise „techniques of futuring“ bei Hajer & Versteeg 2018): Bilder, die zeigen, dass Alternativen zu der heute dominanten Mobilitätsstruktur bestehen und dass alle an dieser Wende teilhaben können und müssen. Das Zeichnen eben dieser Bilder gelingt bisher nur unzureichend. Ein Grund: Es fehlen Vermittler*innen, die in der Lage sind, technischen, oft auch ökonomischen Lösungen zu sozialer und kultureller Anerkennung zu verhelfen. Wahrscheinlich noch viel wichtiger ist es, Bürger*innen in die Lage zu versetzen, selbst diese Bilder in ihrem persönlichen Mobilitätsverhältnis zu zeichnen: Beteiligung an (städtischen) Veränderungsprozessen ist dabei genauso von Bedeutung, wie Möglichkeiten, neue Technologien und ökonomische sowie soziale Modelle auszuprobieren, sich über sie auszutauschen und in die eigenen Vorstellungen eines ‚guten Lebens‘ zu integrieren (Shove & Walker 2010). Rein technisch-ökonomische Strategien werden voraussichtlich kaum gangbare Lösungen hervorbringen, sofern diese nicht mit der alltagsweltlichen Rationalität der Bürger*innen kompatibel sind. Bedauerlicherweise wird genau diese alltagsweltliche Rationalität von politischen Entscheidungsträger*innen, technischen Eliten, aber auch teilweise von Wissenschaftler*innen immer wieder als Irrationalität abgetan (Wynne 1983).

Die Mobilitätswende als eine Geschichte von neu gewonnenen Möglichkeiten und Gerechtigkeit zu erzählen und in Bilder zu fassen, scheint daher eine zentrale Herausforderung – für gesellschaftliche Akteur*innen, aber auch für Wissenschaftler*innen, die entsprechende Argumente liefern. Strohfeuerdebatten wie aktuell um Grenzwerte helfen in dieser Situation kaum weiter. Als Reaktion auf Ungerechtigkeiten, die aus festgefahrenen Erzählungen und Bildern heraus ständig reproduziert werden, sind sie wohl notwendigerweise Teil eines beschwerlichen Weges – sie sind aber weder Selbstzweck, noch sollten sie dauerhaft Zentrum der Debatte bleiben.

 

Zu den Autoren: Die Autoren des Beitrags sind Mitglieder der Nachwuchsforschungsgruppe „DynaMo“, die sich u.a. mit der nachhaltigen Gestaltung urbaner Mobilitätssysteme auseinandersetzt. Nils Stockmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Instituts für Politikwissenschaft der WWU Münster und assoziierter Mitarbeiter des ZINs. Dr. Marco Sonnberger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Interdisziplinäre Risiko- und Innovationsforschung (ZIRIUS) der Universität Stuttgart.

 

Quellen:

Agyeman, Julian (2005): Sustainable Communities and the Challenge of Environmental Justice. New York: NYU Press.

Hajer, M., & Versteeg, W. (2018): Imagining the post-fossil city: why is it so difficult to think of new possible worlds? Territory, Politics, Governance, 1–13.

Hood, C. (2011): The blame game: Spin, bureaucracy, and self-preservation in government. Princeton, Oxford: Princeton University Press.

Science Media Center (25.01.2019): Internationale Experten zu Stellungnahme von Lungenärzten. Online verfügbar unter: https://www.sciencemediacenter.de/alle-angebote/rapid-reaction/details/news/internationale-experten-zu-stellungnahme-von-lungenaerzten/

Shove, Elizabeth; Walker, Gordon (2010): Governing transitions in the sustainability of everyday life. In Research Policy 39 (4), pp. 471–476.

Thompson, Michael; Ellis, Richard J.; Wildavsky, Aaron B. (1990): Cultural theory. Boulder, San Francisco, Oxford: Westview Press.

Wynne, B. (1983): Redefining the issues of risk and public acceptance. Futures, 15, 13–32.