Corona, Klima und Politik der Verantwortung

Niklas Haarbusch

Seit einigen Monaten spreche ich nun für mein Dissertationsprojekt mit Klima-AktivistInnen. Ich forsche zu politischer Sozialisation, frage nach „Aktivismus-Biografien“. Aber natürlich kommen wir im Laufe der Interviews immer auch auf Corona. Die AktivistInnen sitzen in einer Zoom-Kachel, zuhause, bei ihren Eltern, in ihrem WG-Zimmer. Das ist nicht nur das Setting des Interviews, sondern auch großer Teile ihres Aktivismus seit Ausbruch der Pandemie. Anstatt großer Demonstrationen organisieren sie Online-Workshops, beschäftigen sich mit Hygiene-Konzepten für kleinere Aktionen. Sie stünden für „Listen to the Science“ – das müsse auch während der Pandemie gelten, sagt eine Aktivistin. Wie selbstverständlich findet hier eine Übertragung von Grundannahmen des Klimaaktivismus auf die Pandemie statt: Aus wissenschaftlicher Erkenntnis folgt für die AktivistInnen Verantwortung und die Frage, wer diese Verantwortung zu übernehmen hat. Dieser Satz führt auf die Fährte vergleichbarer Problemlagen zweier sehr unterschiedlicher Krisen.

Die Klimakrise und die Pandemie

Dass die Pandemie und die Klimakrise nahe beieinander liegen, lässt sich gut an den Beiträgen des Sonderbandes „Die sozial-ökologische Transformation in der Corona-Krise“ des Journals „Soziologie und Nachhaltigkeit“ ablesen. Auch die Corona-Krise ist eine „ökologische“ Krise, wie Georg Jochum in dem Band herausarbeitet. Viren sind Teil der Umwelt und weil immer größere Teile dieser Umwelt vom Menschen genutzt werden, steigt auch die Gefahr durch Viren. Es ist unklar, wie SARS-CoV-2 genau auf den Menschen übergesprungen ist. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings groß, dass die Infektion etwas damit zu tun hat, dass der Mensch in den Lebensraum der Hufeisenfledermaus vorgedrungen ist – in deren Population das Virus zirkulierte.  Während die Klimakrise darauf zurückzuführen ist, dass wir Kohle, Erdöl oder Gas aus der Natur entnehmen, verbrennen und so die seit hunderttausenden Jahren gebundenen Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen, macht es das weitere Vordringen in bisher geschützte Lebensräume von Wildtieren wahrscheinlicher, dass neue und möglicherweise gefährliche Viren von ihnen auf den Menschen überspringen. Beides, das Gewinnen fossiler Energieträger und das Vordringen in bisher unerschlossene Gebiete, kann als Landnahme bezeichnet werden, die zentral für die wachstumsbasierte Weltwirtschaft seit der industriellen Revolution ist.

Exponentielles Wachstum, verzögerte Effekte und politische Trägheit

Neben der Krisenursache lohnt ein Vergleich der Krisendynamik. Die Corona-Krise wird zumindest MathematiklehrerInnen überall auf der Welt glücklich gemacht haben; exponentielles Wachstum sollte jetzt deutlich mehr SchülerInnen ein Begriff sein. Nur eine geringe Abweichung des R-Wertes, der angibt, wie viele Menschen eine mit Corona infizierte Person im Schnitt ansteckt, und die Kurve der Neuansteckungen erinnert schnell an einen Hockeyschläger. Gefährlicher als die exponentielle Entwicklung der Zahl der Neu-Ansteckungen ist allerdings die ebenfalls Hockeyschläger-förmige Kurve der Neu-Einweisungen in Intensivstationen. Mit dem Fortschreiten der Impfkampagne scheint es zu gelingen, diese beiden Kurven voneinander zu entkoppeln: Hohe Anzahl von Neu-Ansteckungen, trotzdem keine Überlastung der Intensivstationen. Eine vergleichbare Entkopplung ist in der Klimakrise nicht absehbar. Hier gibt es eine ganze Reihe von Hockeyschläger-Kurven: globale Wirtschaftskraft, globaler CO2-Ausstoß und globale Erhitzung wachsen alle exponentiell. Neben dem exponentiellen Wachstum gibt es noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen der Krisendynamik von Pandemie und Klimaerhitzung. Die Inkubationszeit, also die symptomfreie Zeit zwischen der Ansteckung mit dem Corona-Virus und der Entwicklung erster Krankheitsanzeichen, beträgt bis zu vierzehn Tage. Da das Virus meist erst dann entdeckt wird, wenn es symptomatisch ist, „hängen“ die Statistiken dem tatsächlichen Infektionsgeschehen Wochen hinterher. Die Wirkung aller Maßnahmen gegen die Pandemie zeigt sich ebenfalls erst verzögert. Vierzehn Tage sind eine geringe Verzögerung, verglichen mit den verzögerten Effekten der Erderhitzung. Das Weltklimasystem ist träge. Die Erderhitzung war lange prognostizier- aber noch nicht spürbar. Diese Verzögerung zwischen Verursachung und Wirkung ist besonders problematisch, wenn Exponentialkurven zu Grunde liegen. Wenn der Effekt eintritt, geht alles sehr schnell, ist der Schaden enorm und ein Gegensteuern kommt zu spät.

Eigenverantwortung und klimapolitische Enttäuschung

Die jungen KlimaschützerInnen, die ich interviewe, haben früh gelernt, was Verantwortung für die Umwelt bedeutet. In der Schule haben sie Bäume gepflanzt, Müll gesammelt, in verschiedensten Projekten von Exkursionen bis Theaterstücken nahegebracht bekommen, dass sie ihren Teil beitragen müssen. Eine Aktivistin berichtet mir von einem Theaterstück in der Grundschule, an dessen Ende die Belehrung von UmweltsünderInnen steht. Die AktivistInnen haben verinnerlicht: Verantwortungsübernahme ist gewollt. Jeder und jede soll seinen und ihren Teil für den Schutz der Umwelt beitragen. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist dafür als neoliberale Ideologie gescholten worden, Verantwortung werde auf den Einzelnen oder die Einzelne abgewälzt. Die AktivistInnen übernehmen als Einzelne Verantwortung: Sie ernähren sich vegan, versuchen ihre Familien vom Fliegen abzubringen, fahren Fahrrad statt Auto, haben in der Pandemie ihre Kontakte reduziert und geben ihr Bestes, sogar ihren Protest hygienisch einzurichten. Der Soziologe Klaus Hurrelmann nennt diese heranwachsende Kohorte „Generation Greta“. Sie sieht sich mit Problemen konfrontiert, die Eigenverantwortung nicht lösen kann. Auch die KlimaaktivistInnen, die ich interviewe, betonen ausnahmslos, dass ein „grüner“ Lebensstil nicht reicht. Sie nehmen die Verantwortung an, erwarten aber, dass auch die geeigneten politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Sie sehen klar die Diskrepanz zwischen der von PolitikerInnen immer wieder bekundeten Sorge über ökologische Probleme, deren Beschreibung durch Wissenschaft und Medien sowie den tatsächlichen Maßnahmen, der Veränderung von Rahmenbedingungen im Schneckentempo. Zum Teil gibt es eine ehrliche Enttäuschungserfahrung, ausgehend von der naiven Annahme, die Politik müsse einfach hinreichend „informiert“ werden, was die Dramatik der Krise angeht. Von einem Informationsdefizit der Politik kann allerdings nicht die Rede sein, Prognosen sowohl der Wellen der Pandemie als auch der Zeitleiste der Klimakrise erwiesen sich als erstaunlich präzise.

Forderung nach einer Politik der Verantwortung

Die Forderung der jungen AktivistInnen lässt sich über die Klimakrise hinaus verallgemeinern. Sie sind bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen, erwarten aber auch eine dementsprechende Übernahme politischer Verantwortung. Hans Jonas, der Klassiker der Philosophie ökologischer Krisen, spricht hier von einer „aufspürenden Heuristik der Furcht“. Dunkle Prognosen der Wissenschaft sind ernst zu nehmen. Gerade bei kollektiven, verzögerten und exponentiellen Krisen wie Pandemie oder Erderhitzung wäre es geboten, politische Maßnahmen zu ergreifen, solange der Schaden noch nicht eingetreten ist. Selbst dann, wenn dies gegenüber WählerInnen mehr Erklärung erfordert. Die Politik der Verantwortungsabtretung, die Verantwortung an Einzelne delegiert oder auf technische Wunder hofft, kann zur Enttäuschung gerade derjenigen führen, die selbst Verantwortung annehmen. Die AktivistInnen sehen sich jedenfalls in der Pflicht, weiter zu machen. Die Pandemie belaste sie, weil die Erfolge der Protest-Organisation weniger sichtbar wären, sagt mir eine Aktivistin. Aber es müsse weiter auf die Klimakrise aufmerksam gemacht werden – ob der Einsatz nun motivierend wie eine Großdemonstration sei oder lediglich den Charme einer Zoom-Konferenz habe.

Referenzen & Lesetipps:

Görgen, Benjamin; Grundmann, Matthias; Haarbusch, Niklas; Hoffmeister, Dieter; Wendt, Björn (2020): Die sozial-ökologische Transformation in der Corona-Krise. Soziologie und Nachhaltigkeit Sonderband II. Online: https://www.uni-muenster.de/Ejournals/index.php/sun/issue/view/214.

Hurrelmann, Klaus; Albrecht, Erik (2020): Generation Greta. Was sie denkt, wie sie fühlt und warum das Klima erst der Anfang ist. Weinheim: Beltz.

Jonas, Hans (1979/2020): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Berlin: Suhrkamp.

Über den Autor:

Niklas Haarbusch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Münster und promoviert zur politischen Sozialisation von Klima-AktivistInnen. Er ist Mitglied des Arbeitskreises Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsforschung und Redakteur des Journals Soziologie und Nachhaltigkeit.

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