Warum sterben Städte? Erkenntnisse aus der Archäologie zu den Bedingungen für Resilienz

Achim Lichtenberger

Die Stadt als Lebensform ist eine Erfolgsgeschichte der Menschheit und bringt viele Vorteile aber auch Probleme. Gemeinsam lässt sich Leben effizienter organisieren und gemeinsam lassen sich Gefahren besser bewältigen. In der Verdichtung von Menschen entsteht aber schnell auch die Herausforderung wie eine nachhaltige Lebensweise gestaltet werden kann, da viele Menschen mehr Ressourcen verbrauchen und zerstören als wenige Menschen. Daher ist ein Ziel zahlreicher internationaler Organisationen der Aufbau von sog. „Resilient Cities“, die ökonomische, administrative, gesellschaftliche und ökologische Rahmenbedingungen für Resilienz schaffen, und dabei spielt nachhaltige Entwicklung eine entscheidende Rolle. Nachhaltige Entwicklung bedeutet in diesem Zusammenhang gesellschaftlicher Fortschritt ohne Überstrapazierung der verfügbaren Ressourcen.  

Weltweit erkennen die meisten Menschen, ob ihre Städte etwa durch Umweltverschmutzung oder Überbevölkerung unter Druck stehen und gravierende Probleme haben, die letztlich zu einem Kollaps führen können. Der wirkliche Kollaps einer Stadt und ihr Ende liegen aber außerhalb des unmittelbaren Erfahrungshorizonts der Zeitgenossinnen und Zeitgenossen.

Aus historischer Perspektive ist das aber eigentlich der Normalfall, denn auf lange Zeiträume gesehen entstehen Städte und sie sterben und werden verlassen. Städte wie Rom oder Athen, die seit der Antike in unterschiedlicher Intensität kontinuierlich besiedelt waren, sind eher die Ausnahme. Die meisten Städte wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt gegründet, existierten mehr oder weniger lang und wurden später wieder verlassen, wurden vergessen und werden erst wieder durch die Archäologie wiederentdeckt.

Archäologie erforscht untergegangene Städte

Um Bedingungen für Resilienz von Städten besser verstehen zu können, ist ein Blick in die Geschichte hilfreich. Gerade untergegangene Städte können uns so als Laboratorien für ultimativ gescheiterte Resilienz dienen. Seit 2011 untersucht ein internationales Forschungsteam, angeführt von den Universitäten Aarhus und Münster die antike Stadt Gerasa/Jerash in Jordanien. Die Stadt wurde im 2. Jh. v. Chr. gegründet, war in der römischen Kaiserzeit eine bedeutende Stadt der Dekapolis und Verwaltungssitz der römischen Provinzverwaltung. In der Spätantike blühte die Stadt auf, die Entwicklung ging bis in die Zeit nach der islamischen Eroberung im 7. Jh. n. Chr. stetig weiter. Erst ein Erdbeben 749 n. Chr. zerstörte Gerasa, und in der Folgezeit wurde die Stadt faktisch verlassen. Es gelang nicht mehr, an das alte urbane Leben anzuknüpfen. Eines der Ziele des Forschungsprojektes ist es, zu verstehen, weshalb das Erdbeben 749 n. Chr. das Ende der Stadt bedeutete. Denn auch vorher schon erschütterten schwere Erdbeben die Stadt, aber sie war jedes Mal resilient und konnte wiederaufgebaut werden. Weshalb gelang das 749 n. Chr. nicht?

Olivenkerne als Feuermittel und recyceltes Glas – Zeichen lokaler Probleme?

Wie so oft in der Wissenschaft gibt es auch in diesem Fall keine einfache Erklärung. So dürften in dem Prozess des Endes des städtischen Lebens von Gerasa lokale und globale Faktoren eine Rolle gespielt haben. In unseren Forschungen konnten wir zeigen, dass seit dem 6. Jh. n. Chr. Veränderungen in der Stadt passierten. Nun wurde zum Beispiel Glas, das zuvor vor allem als Rohstoff importiert wurde, recycelt. Auch konnten wir beobachten, dass zum Schmelzen des Glases nun nicht mehr Holz als Feuermittel verwendet wurde, sondern Olivenkerne. Wie ist das zu bewerten? Waren die Wälder abgeholzt und man griff notdürftig auf Olivenkerne zurück? Oder ist das eher ein Beleg für eine steigende Olivenöl-Produktion, deren Abfall nachhaltig weiterverwendet wurde? Auch das Glasrecycling kann unterschiedlich bewertet werden: Ist es ein auf eine Krise hinweisender Beleg dafür, dass Vertriebswege unterbrochen waren – oder zeugt es von einer wachsenden Bevölkerung und einer gesteigerten Nachfrage, die zu dem nachhaltigen Recycling führte? Eine Entscheidung zwischen einer der beiden Möglichkeiten ist vielleicht gar nicht nötig, denn die eine schließt die andere nicht aus.

Dasselbe gilt für eine andere Beobachtung: In der Stadt wurden im 6. Jh. n. Chr. eine Fülle an neuen Kirchen gebaut, die auf städtisches Selbstbewusstsein und Wohlstand der Bevölkerung schließen lassen. Die Spätantike war insgesamt eine Zeit, in der die Bevölkerung massiv wuchs, und als schließlich 749 n. Chr. das Erdbeben zuschlug, dürfte der absolute Höhepunkt der Bevölkerungsentwicklung gewesen sein. Die Stadt war dicht besiedelt und Freiflächen in der Stadt wurden geschlossen, um die Bevölkerung beherbergen zu können. Eine solche große Bevölkerung konnte einerseits anscheinend von der Stadt versorgt werden. Andererseits konnten wir aber beobachten, dass bereits seit dem 6. Jh. n. Chr. die landwirtschaftlichen Terrassen im Hinterland teilweise nicht mehr gepflegt wurden und verfielen. Das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt wurde somit vernachlässigt. Auch hier können wir also zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten: Bevölkerungswachstum und Ausgabensteigerung ohne nachhaltige wirtschaftliche Grundlagen. So scheint es, dass die gleichzeitigen und gegenläufigen Entwicklungen von Prosperität auf der einen und Krise auf der anderen Seite Zeichen für einen unausgewogenen Umgang mit den Ressourcen und somit mangelnde Nachhaltigkeit sind. Diese Situation dürfte zu dem Niedergang und der mangelnden Resilienz der Stadt Gerasa im Jahr 749 n. Chr. beigetragen haben. 

Globale Perspektiven: Klimaveränderungen und gesellschaftliche Relevanz

Trotz der Komplexität dieser Erklärung reicht sie aber nicht aus. Denn neben den lokalen Faktoren müssen auch globale Faktoren mit einbezogen werden, die sich lokal unmittelbar niederschlagen. Zunächst einmal sind dabei die globalen Klimaveränderungen mit zu berücksichtigen. Im 6. Jh. n. Chr. gab es eine sogenannte Kleine Eiszeit, die auch Auswirkungen auf die landwirtschaftlichen und ökonomischen Grundlagen der Stadt Gerasa gehabt haben könnte. Allerdings ist noch nicht erforscht, wie sich eine globale Kälteperiode tatsächlich lokal auf eine Stadt in Jordanien ausgewirkt haben könnte. War eine Kälteperiode tatsächlich von Nachteil für diese trockene Region? Hier ist noch Forschungsarbeit zu leisten, um ein regional differenziertes Bild zu bekommen.

Ein weiterer wichtiger globaler Faktor sind politische Veränderungen, die um die Mitte des 8. Jh.s n. Chr. in der Region stattfanden. Während die erste Dynastie der islamischen Herrscher, die Umayyaden, ihr politisches Zentrum in Damaskus, also ganz in der Nähe der Stadt Gerasa hatten, verlegte die 750 n. Chr. nachfolgende Dynastie der Abbasiden das politische Zentrum nach Osten, nach Mesopotamien. Gerasa und weitere Städte der Region gerieten damit geographisch ins Abseits, Handelsrouten verliefen nun anderswo und ökonomische Zentren waren fern. Auch diese Entwicklung könnte erklären, weshalb nach dem Erdbeben 749 n. Chr. keine Anstrengungen unternommen wurden, die Stadt wiederaufzubauen.

Aus der Geschichte lernen?

Obschon das Beispiel der untergegangenen Stadt Gerasa keine monokausale Antwort auf die Frage nach der mangelnden Resilienz von Städten gibt, lohnt sich doch der Blick in die Geschichte. Die Langzeitperspektive verdeutlicht, dass Prozesse des Niedergangs langfristig und vielleicht sogar weitgehend unbemerkt verlaufen. Ereignisse wie der Schock durch ein Erdbeben treten dann aber plötzlich und krisenhaft ein und sind unumkehrbar. Multikausale Prozesse gesellschaftlicher Resilienz sollten deshalb genau beobachtet und insbesondere langfristige Entwicklungen im Blick behalten werden. Dabei dürfen gegenwärtiger Wohlstand und vermeintliches Wohlleben nicht über verborgene Krisensymptome und fehlende Nachhaltigkeit hinwegtäuschen. Das Beispiel der antiken Stadt Gerasa zeigt uns, dass die Folgen katastrophal sein können.  

Über den Autor:

Achim Lichtenberger ist Professor für Klassische Archäologie und Direktor des Archäologischen Museums der Universität Münster. In seinen feldarchäologischen Forschungen in Jordanien, Israel und Armenien arbeitet er zu siedlungsarchäologischen Fragen und den Mensch-Umwelt-Beziehungen städtischer Gemeinschaften in einer Langzeitperspektive.

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