Die Natur – mehr als ein Wirtschaftsgut

Lea Becker

Was bedeutet die Natur für uns? Was bedeutet sie für die Gesellschaft? Mag sie für einige Menschen immer noch unter dem Begriff der ‚Wildnis‘ als unschuldige und unverdorbene Urnatur verstanden werden, so stellt sie im gesellschaftlichen Alltag vor allem eines dar: ein Wirtschaftsgut. Oder besser gesagt, sie wird damit gleichgesetzt, obwohl diese Gleichsetzung infrage zu stellen ist, wie ich im Laufe dieses Textes zeigen werde.

Dass die Natur dennoch derart eingeordnet wird, lässt sich damit begründen, dass sie Gegenstand der Tragik der Allmende ist. Das heißt es werden frei verfügbare, aber begrenzte natürliche Ressourcen durch die Übernutzung einzelner oder mehrerer Personen bedroht, wie beispielsweise im Falle der überfischten Weltmeere. Derartige Probleme sind als Marktversagen zu verstehen, da der Marktmechanismus dabei nicht die gewünschten volkswirtschaftlichen Ergebnisse erzielen lässt, wie insbesondere das Trittbrettfahrerproblem verdeutlicht.

Wie reagiert man darauf, wenn der Markt nicht funktioniert? Mit mehr Markt! So paradox dies wirken mag – diese Antwort hat sich ab den 1960er-Jahren und insbesondere durch die Ideologien Ronald Reagans und Margaret Thatchers eingestellt. In der Konsequenz veränderte sich die Konzeption der öffentlichen Hand dahingehend, dass erfolgsorientierte Politiker*innen wirtschaftliche Instrumente für ihren eigenen Wahlvorteil nutzten, beispielsweise indem sie kurz vor einer Wahl die Wirtschaft ankurbelten. Der Begriff des Marktversagens wurde somit insbesondere durch neoliberale Politiker*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen durch jenen des Staatsversagens ersetzt. Doch nicht nur die Konzeption des Staates veränderte sich, auch die Natur wurde in das liberale Dogma eingeordnet und somit zunehmend als Wirtschaftsgut mit einem Preis verstanden, welches der Markt organisiert.

Dass die Natur einen Wert besitzt, trifft auch aus einer nachhaltigkeitsorientierten Sicht zweifelsohne zu. Doch was bedeutet die Gleichsetzung der Natur mit einem Wirtschaftsgut für das menschliche Verhältnis zu ihr? Wie kann ein angemessenes Naturverständnis, welches ihren Wert anerkennt und sie schützt, aussehen?

Ökosystemdienstleistungen – gute Idee, schlechte Umsetzung?

Der französischen Philosophin Virginie Maris (2014) zufolge hat der Begriff der ‚Natur‘ im Laufe der Zeit einige Transformationen durchlaufen. Diese beginnen zu Anfang des 20. Jahrhunderts, als sich das erste Interesse für den Schutz der Natur regte. In den 1980ern erfuhr der Begriff eine zunehmende Verwissenschaftlichung, welche sich in dem Term der ‚Biodiversität‘ ausdrückt. Die Identifikation von Populationen sowie ihre Quantifizierung geriet damit ins Augenmerk. In den 2000ern wiederum wurde der Begriff der Biodiversität weniger genutzt und das Konzept der ‚Ökosystemdienstleistungen‘ trat an seine Stelle. Nach Maris verbindet sich damit ein Prozess der Instrumentalisierung der Natur. Doch warum?

Der Begriff ‚Ökosystemdienstleistungen‘ geht auf den Biologen Paul Ehrlich zurück, der mit dem Konzept beabsichtigte, den Reichtum aufzuzeigen, den die Natur für Menschen birgt und so zu ihrer Erhaltung anzuregen. Dieser ursprüngliche Gedanke wurde jedoch in die Idee umgewandelt, den Wert der von Ökosystemen erbrachten Leistungen monetär zu bemessen. Lag die Grundidee Ehrlichs noch dem Millennium Ecosystem Assessment, einer systematischen Studie der UN, zugrunde, so versuchte der Dasgupta-Bericht von 2021, ein von der britischen Regierung in Auftrag gegebenes Gutachten, den Wert der Natur zu quantifizieren. Darin schwingt mit, dass die Natur für die Menschen ausschließlich aufgrund der Dienstleistungen, die sie bietet, bedeutsam ist: eine ökonomische Reduktion der Natur darauf, was sie uns nützt. So isolierten beispielsweise Wissenschaftler*innen der Universität Hohenheim die ökologische Funktion der Bestäubung von Insekten und errechneten, dass das Bruttosozialprodukt in Deutschland ohne die Arbeit der Tiere jährlich 3,8 Milliarden Euro einbüßen würde. Weltweit wären es rund 845 Milliarden Euro, etwa ein Prozent des weltweiten Bruttosozialprodukts (vgl. Lippert et al. 2020).

Obgleich die Zuschreibung eines ökonomischen Werts als Argument für die Rettung, beispielsweise von Bienen, angeführt werden kann, sind dennoch einige Aspekte zu kritisieren. Zunächst werden andere Funktionen sowie die Lebenswerte der jeweiligen Teile des Ökosystems, beispielsweise der Lebenswert von Bienen, in derartigen Betrachtungen ignoriert. Die reduktionistische Betrachtungsweise lässt sich an einem weiteren Beispiel darstellen: Denkt man an Fledermäuse, die aufgrund ihrer Eigenschaft als Insektizid Gegenstand ähnlicher Studien sind, so ließe sich argumentieren, dass chemische Insektizide ihre Funktion ersetzen könnten und dies sogar noch das Wachstum der Unternehmen, die diese Substanzen verkaufen, unterstützen könnte. Diese Analyse aber ist in einem wirtschaftlichen Paradigma gefangen, unterschlägt ethische Kriterien und wird der Komplexität des Ökosystems nicht gerecht. So sind beispielsweise Fledermäuse – neben der schlichten Tatsache, dass sie als Lebewesen wertvoll und schützenswert sind – auch für Samenausbreitung und Bestäubung wichtig. Zudem wird stellenweise argumentiert, dass einige Dienstleistungen nicht direkt von den Ökosystemen stammten, sondern erst der Bearbeitung durch Menschen bedürfen, beispielsweise wenn Felder bestellt würden, um Lebensmittel zu gewinnen. Gleichzeitig birgt die menschliche ‚Verwaltung‘ von Ökosystemdienstleistungen in dem wirtschaftlichen Interesse, die Dienstleistungen zu maximieren, beispielsweise durch den Einsatz von Pestiziden, das Risiko der Schädigung des Ökosystems, wie beispielsweise des Rückgangs der Biodiversität.

Wie von Maris benannt, besteht das grundsätzliche Problem mit dem Begriff der Ökosystemdienstleistungen in einer instrumentalisierten Beziehung zur Natur, die wiederum auf der Trennung von Natur und Mensch bzw. der aufklärerischen Idee, dass gesellschaftlicher Fortschritt die Loslösung von Naturzwängen erfordere, basiert (vgl. Descola 2005). Dieser konstruierte Dualismus machte die wirtschaftsimperiale Ausbeutung der Natur erst möglich, indem er Abhängigkeiten zwischen Mensch und nicht-menschlicher Umwelt ignoriert und damit der Eroberung, Kontrolle und (Aus-)Nutzung der Natur den Weg bereitet. Doch tatsächlich ist unser Verständnis von Natur immer gesellschaftlich geprägt, wie die oben dargestellten Begriffstransformationen zeigen, und Kultur entwickelt sich notwendigerweise immer in Abhängigkeit von dem Lebensraum der Menschen.

Für den Begriff der Ökosystemdienstleistungen folgt daraus: Die Grundidee Ehrlichs ist zweifelsohne wertvoll, um die Abhängigkeit des Menschen von der natürlichen Umwelt zu betonen, doch seine Adaptation im Sinne eines rein ökonomischen Paradigmas verkennt den eigentlichen Sinn und verstärkt die Betrachtung der Natur als Dienstleisterin für den Menschen.

Die Natur als Ware

Im Zusammenhang mit der Betrachtung der Natur als Leistung, die sie den Menschen bringt, wird sie ebenso als Teil des Marktes gesehen. Seit den 1930er-Jahren steht die Knappheit im Mittelpunkt der Definition von Wirtschaft. Sie tritt auf, wenn knappe Mittel für die unbegrenzten Zwecke der vermeintlich unersättlichen Verbraucher*innen zur Verfügung stehen sollen. Heute stellt man nach dieser Logik fest, dass man Knappheit auch im Bereich der Natur wiederfindet, insofern natürliche Ressourcen endlich sind. Das wiederum ermöglicht die Zuweisung eines Preises. Die Natur wird also als Ware betrachtet. Schon im Jahr 1944 warnte der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi vor der Kommodifizierung – also der sich ausbreitenden Marktlogik, dem zunehmenden ‚zur-Ware-werden‘. Er argumentiert, dass eine Reihe von Gesetzen im 19. Jahrhundert zur Verselbstständigung der Wirtschaft gegenüber der Gesellschaft führte. So schaffte beispielsweise das neue Armengesetz von 1834 in Großbritannien die Bindung der Löhne an den Brotpreis und damit die Garantie eines existenzsichernden Lohns ab, wodurch Arbeit zunehmend zu einer Ware wie jede andere wurde. Tatsächlich stellen jedoch Arbeitskraft, ebenso wie Geld und Boden, also auch Natur im weitesten Sinne, für Polanyi fiktive Waren dar, die nicht für den Verkauf produziert werden, aber trotzdem vermarktet werden. Die Folge besteht ihm zufolge in Armut und Umweltzerstörung.

Dieses ‚zur-Ware-werden‘ der Natur führt nach Maris folgenden drei Problemen. Erstens wird die Komplexität des Ökosystems maßgeblich reduziert. In Wahrheit stehen die verschiedenen Komponenten von Ökosystemen jedoch, wie bereits erwähnt, in ständiger Wechselwirkung zueinander. Zweitens wird in einer anthropozentrischen Logik postuliert, dass die Menschen sich rechtmäßig alle Ressourcen und Funktionen der Ökosysteme aneignen könnten. Und selbst wenn man diese Logik nicht in Frage stellt, so bleibt dennoch das Problem, wer unter den Menschen rechtmäßige Eigentümerin oder rechtmäßiger Eigentümer einer Naturware oder einer Ökosystemdienstleistung sein soll. Drittens stellt sich ein Substitutionsproblem, dem die Vorstellung der schwachen Nachhaltigkeit zugrunde liegt, dass es nämlich möglich sei, zerstörte Umweltressourcen durch Sach- und Humankapital zu ersetzen. Dies ist aus ökologischer Sicht illusorisch, da eine technische Innovation beispielsweise niemals dieselben Werte und Funktionen tragen kann wie ein ganzes Ökosystem, und aus philosophischer Sicht gefährlich, weil es zum Beispiel die notwendige Differenzierung des Wertes technischer Innovationen und des Wertes von Ökosystemen vollständig unterschlägt.

Mensch und Natur – eine Symbiose?

Was lernen wir nun aus diesen Darstellungen? Wie machen wir weiter in einer Welt, in der die Analyse von Ökosystemdienstleistungen und die Betrachtung von Natur als Ware auf planetare Grenzen stoßen?

Erstens: Man kann den Wert der Natur nicht vollumfänglich wirtschaftlich definieren oder messbar machen. Die Verletzungen, die der Mensch seiner natürlichen Umwelt über die Jahre zugefügt hat, lassen sich nicht dadurch reduzieren, dass man die Natur selbst in das Paradigma drückt, welches am Ursprung dieser Probleme sitzt. Die Natur fällt unter ein anderes Register als die Wirtschaft.

Zweitens: Das bedeutet, dass die Einzigartigkeit der Frage nach dem Schutz der natürlichen Umwelt berücksichtigt werden muss. Möchte man sie mit der Wirtschaft verbinden, so ist eine derartige ökologische Ökonomie nur dann sinnvoll, wenn es ihr gelingt, die von der Ökologie geprägten Elemente und Konzepte zu integrieren, da die Wirtschaft notwendigerweise in die Biosphäre eingebettet ist. Es geht nicht um die Reduktion auf eine Reihe von uns umgebenden Wirtschaftsgütern, sondern um die Rekonstruktion einer lebendigen Natur, die Leben spendet.

Drittens: Die Vorstellung der Unabhängigkeit des Menschen von der Natur ist abwegig. Tatsächlich stehen wir in vielerlei Hinsicht in einem interdependenten Verhältnis mit der Umwelt, die uns umgibt. Daraus folgt auch eine Verantwortung für den Schutz der Natur. Ehrlichs Grundidee hinter den Ökosystemdienstleistungen, die Anerkennung des Reichtums der Natur, sollte geschätzt werden und den Menschen zu Mäßigung und Demut anregen. Tagtäglich sichert die Natur unsere Lebensgrundlage, unsere Versorgung und bietet uns einen enormen kulturellen Wert. Diesen gilt es zu achten und der Natur ein Dankeschön entgegenzubringen.

Über die Autorin:

Lea Becker (B.A) studiert im Master den deutsch-französischen Studiengang Internationale und Europäische Governance und arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und nachhaltige Entwicklung des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Münster.

Literatur:

Descola, Philippe (2005): Par-delà nature et culture. Paris: Gallimard. (Deutsche Übersetzung von Eva Moldenhauer, 2011: Jenseits von Natur und Kultur. Berlin: Suhrkamp.)

Karl Polanyi (1944): The Great transformation. New York: Farrar & Rinehart.

Lippert, Christian; Feuerbacher, Arndt; Narjes, Manuel (2020): Revisiting the economic valuation of agricultural losses due to large-scale changes in pollinator populations. In: Ecological Economics (180). Maris, Virginie (2014): Nature à vendre. Les limites des services écosystémiques. Editions Quae.