Wohlstand ohne Zukunft – Wie Krisen unsere Realität verändern

Rebecca Froese

Während ich diese Zeilen schreibe, wird in Berlin ein junger Demonstrant der Letzten Generation gerade von einem Polizisten unter markerschütternden Schmerzensschreien von einer Straße geführt und eine 24-jährige Frau ohne Bewährung zu vier Monaten Haft verurteilt, weil Sie sich in der Öffentlichkeit festgeklebt hat und uneinsichtig zeigte. Gleichzeitig weicht die Ampelkoalition das Klimagesetz auf und Verkehrsminister Wissing schlägt ein kostenloses Deutschlandticket für alle Käufer von Neuwagen vor. Die Ironie der Situation drängt die Frage auf, wem hier eigentlich die Uneinsichtigkeit zuzuschreiben ist. Gleichzeitig bricht dieser Tage der 15. Monat des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine an. Am Horn von Afrika herrscht die schlimmste Dürre seit 40 Jahren, während in Pakistan noch immer die Schäden der verheerenden Flut des letzten Sommers beseitigt werden, die ein Drittel des Landes unter Wasser setzte. Und erst vor wenigen Monaten wurden während einer Razzia in der Reichsbürgerszene 25 teils schwerbewaffnete Menschen verhaftet, die das politische System in Deutschland stürzen wollten. Man sollte meinen, nach der Covid-19 Pandemie hätte sich die Welt eine Pause von der allgemeinen Krisenstimmung verdient. Doch im Gegenteil. Diese Ereignisse scheinen uns vielmehr einen Ausblick auf das zu geben, was uns im Rest dieses Jahrhunderts noch so erwartet.

Eine neue Vision unserer Gesellschaft

Die Strukturen, denen diese Ereignisse zugrunde liegen, sind alles andere als neu: Russlands Aggressionen gegenüber der Ukraine sind nicht erst seit dem 24. Februar 2022 bekannt, sondern schon seit der Belagerung der Krim, mehr als deutlich. Der Klimawandel hat auch in der Vergangenheit schon in weiten Teilen der Welt zu Dürren, Flutkatastrophen und großflächigen Waldbränden geführt, und auch die Entwicklungen am rechten Rand der Gesellschaft und ihre Präsenz in der deutschen Politik und auf den Straßen sind seit der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ 2015 und den Hochzeiten der Querdenkerbewegung nichts Neues. Was sich verändert hat, ist die Nähe, die wir zu diesen Ereignissen haben. Die Auswirkungen der Krisen rücken näher, betreffen uns selbst oder Menschen, die wir kennen. Ich habe Freunde in der Ukraine, um die ich mir Sorgen mache. Menschen, die panisch in die Angst vor der atomaren Bedrohung des kalten Krieges zurückgeworfen wurden. Ich kenne Leute, die Familie in Pakistan haben und auch solche, die als Freiwillige im Aufräumeinsatz im Ahrtal waren und bin deshalb fassungslos, was manche*r mitte-rechte Politiker*in  heutzutage in der Öffentlichkeit sagt und wie leichtfertig die Auswüchse der Verzweiflung junger Menschen in Anbetracht des fortschreitenden Klimawandels kriminalisiert werden. Diese Nähe ist es, die uns betroffen macht, die die Veränderungen spürbar und die Angst greifbar macht. 

Die Angst ist keine besonders gute Beraterin und solche schwarzen Projektionen können wir jetzt, wo gerade erst die Pandemie unser Leben, unsere Arbeit unsere Routinen und Pläne auf den Kopf gestellt hat, nicht wirklich gebrauchen. Doch auch wenig hilfreich finde ich haltlose Zusicherungen, dass schon alles gut werden wird. Denn wenn eines sicher ist, dann, dass uns die wirklich großen Veränderungen dieses Jahrhunderts erst noch bevorstehen. Es wird nicht mehr reichen, die Herausforderungen unserer Zeit im Silodenken anzugehen. Die jüngste Vergangenheit hat uns gezeigt, dass Energiesicherheit, Klimaschutz, und Friedensförderung zusammengedacht werden müssen. Genauso sollten wir beginnen Nahrungsmittelsicherheit, faire Preise und gerechte Löhne in der Landwirtschaft und Artenschutz nicht voneinander zu trennen. Und so vieles mehr. Was wir brauchen, ist eine neue Vision unserer Gesellschaft. Eine Idee davon, wie wir in Zukunft gemeinsam miteinander leben und unsere Welt gestalten können, einen scharfen Fokus auf das, was zählt und verlässliche Erkenntnisse darüber, wie wir als globale Gesellschaft gemeinsam dieser Vision näherkommen.

Die Realität ist real

In den letzten Jahren ist schon viel dazu geschrieben worden, was wir aus dieser Krisenzeit des Schmerzes und des Traumas lernen können. Manchmal kann es nützlich, wenn auch fast banal, sein, daran erinnert zu werden, dass die Realität real ist. In unserer westlichen Welt verbringen viele den Großteil des Tages mit einem Computer, einem Medium, in dem alles editierbar ist; einem Medium, das von einem Antivirenprogramm gescannt und kurzfristig wiederhergestellt werden kann; einem Medium, in dem virtuelle Dinge herumbewegt werden und willkürlich alles verändert werden kann; einem Medium, das im Zweifel mit dem Ziehen des Steckers neugestartet werden kann. In dieser Normalität werden wir daran erinnert, dass es eine Wirklichkeit gibt, in der die Dinge so nicht funktionieren. Genauso wenig, wie wir die biologischen Gesetze verändern können, die dem Ausbreitungsmuster eines Virus zugrunde liegen, so wenig können wir die physikalischen Gesetze beeinflussen, die den Klimawandel zu dem machen, was er ist. Letztendlich ist es diese ultimative Behauptung der physischen Realität in unserer postmodernen, hochgradig medialen und doch so abstrahierten Welt, die uns bewusst macht, dass wir uns selbst in die Klimakrise gesteuert haben, und dass wir selbst auch schon alle Mittel haben, um, vielleicht gerade noch rechtzeitig, das Schlimmste abzuwenden.

Was wir aus der Pandemie auch gelernt haben ist, dass die Geschwindigkeit, mit der Entscheidungen getroffen und Handlungen umgesetzt wurden, wirklich relevant sind. Wir leben in einer Welt, in der Entscheidungsträger*innen daran gewöhnt sind, zu glauben, dass der Mensch mit Abwarten und Zeitschinden die halbe Arbeit vom Tisch bekommt. Und an vielen Stellen funktioniert dieser schrittweise Prozess vielleicht auch genau richtig. Man macht ein wenig und kommt irgendwann wieder und macht ein bisschen weiter. Der Fall der Pandemie hat uns jedoch gezeigt, dass dieser Weg im Falle einer Krise nicht unbedingt zu empfehlen ist: Bill McKibben, Mitbegründer von 350.org verglich unser Handlungsdefizit den Klimawandel betreffend einmal mit dem Februar 2020 in den USA und Südkorea: Im Januar 2020 hatten die USA und Südkorea am gleichen Tag den*die ersten Covid-19 Tote*n zu betrauern. Während Südkorea sofort Maßnahmen ergriff, zögerten die USA mit der Umsetzung tiefgreifender Maßnahmen. Der Lockdown, der später in den USA folgen musste, war deutlich eingreifender und schärfer und dennoch konnte sehr viel Leid nicht vermieden werden. Der Februar war der kritische Zeitrahmen, in dem die entscheidenden Handlungen hätten eingeleitet werden müssen und sei – so die Analogie – vergleichbar mit den letzten 30 Jahren, seitdem die Klimaforschung vor den Auswirkungen des Klimawandels warnt.

30 Jahre sind ungefähr der Zeitrahmen einer Generation – in diesem Fall meiner Generation. Und die letzten 30 Jahre verliefen für uns in Deutschland verdammt ruhig. Um die Wende herum geboren, sind wir in einem wiedervereinten Deutschland aufgewachsen. Genährt vom Wohlstand, den uns unsere Eltern, die ‚Boomer‘, erarbeiteten, waren wir grenzenlos unterwegs in einem Europa der Möglichkeiten und abgesichert durch eine scheinbar unerschütterlich-starke deutsche Wirtschaft und einen Sozialstaat, der uns zwar einiges an Papierschlachten abverlangt, alles in allem aber ein sehr abgesichertes Leben ermöglicht. Das System, was diese Stabilität ermöglicht und die Ressourcen für diesen Wohlstand liefert, ist aber immer noch ein gekoppeltes Erdsystem, dessen Möglichkeiten irgendwann erschöpft sind. So wie die Generationen vor uns der festen Überzeugung waren, dass es ihren Kindern besser gehen werde als ihnen, so können wir uns relativ sicher sein, dass wir, unter der gegebenen Prämisse, die letzte Generation sind, der es, bezogen auf Wohlstand, besser ging als ihrer Vorgängergeneration, denn gegen die globalen Entwicklungen im Erdsystem können wir keinen Wohlstand anhäufen.

Gemeinsam Schäden reparieren und ein gutes Leben für alle ermöglichen

Wenn hinter deinem Haus der Hang abrutscht oder im Nachbarkrankenhaus keine Beatmungsgeräte mehr frei sind, dann kommen wir mit dem Zeitgeist des Individualismus und der Prämisse des freien Marktes nicht sehr weit. Diese Probleme kann niemand allein lösen, egal wie viele Ressourcen eine Person zur Verfügung hat. Dafür braucht es starke demokratische Strukturen, soziale Solidarität, ausreichend Voraussicht und den Mut, mal etwas auszuprobieren. Was wir nämlich in dieser Situation nicht vergessen sollten: Wir sind als Menschen derartig mächtig, dass wir es geschafft haben, einen ganzen Planeten aus dem Gleichgewicht zu bringen. Was würde passieren, wenn wir diese Macht nun dafür einsetzten, die Schäden zu reparieren und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen?

In der Reaktion auf diese Frage fallen oft zwei Argumente: Erstens, die Regierungen seien zu langsam und schwerfällig und zweitens, die Aktionen einzelner Menschen seien einfach zu klein. Oft vergessen wird, dass es auch eine handlungsfähige Gemeinschaftsform zwischen dem Nationalstaat und dem Individuum geben kann, die nicht auf einige wenige hippe Kollektive in Großstädten beschränkt sein müssen. Städte und Kommunen agieren oftmals deutlich ambitionierter als die Bundesregierung und ja, auch Sportvereine, Kirchen oder Nachbarschaftsgruppen könnten genau diese Brücke bilden und sowohl aktive Spielwiese für das Ausprobieren neuer Ideen und Formen des Zusammenlebens sein als insbesondere auch kollektivierten politischen Druck ausüben. Veränderungen werden kommen, aber wir können entscheiden, ob wir sie aktiv gestalten oder ob sie uns jedes Mal aufs Neue überfahren und überfordern. Für diese Veränderung wird eine Offenheit aller Beteiligten nötig sein, die Traditionen wertschätzt aber auch hinterfragen darf, die ermöglicht, nicht behindert, und die uns in Bewegung bringt, um einen neuen Zeitgeist zu entwickeln und neue Wege zu gehen. Ich weigere mich, ohnmächtig vor den Herausforderungen zu stehen, die der globale Wandel bringt und ich weigere mich auch, mich in die Welt von Regenbögen und Einhörnern zu verziehen. Ich möchte eine Geschichte erzählen, die von Gemeinschaft, Mut und Hoffnung spricht und diese Geschichte kann niemand allein erzählen.

Über die Autorin:

Dr’in Rebecca Froese, M.Sc. ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung sowie Mitglied des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Universität Münster. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Land- und Umweltgovernance, der Klimawandel und Soziale Kipppunkte und Gesellschaftlicher Zusammenhalt.