Leseempfehlung: Welzer – Selbst Denken

Wer an den Weihnachtsfeiertagen weit weg vom Alltagstrott sich die Zeit und den Raum nehmen möchte die alltäglichen Gewohnheiten zu hinterfragen, den lädt der Sozialpsychologe Harald Welzer mit seinem Buch „Selbst denken“ genau dazu ein.

„Selbst Denken“ ist ein Plädoyer für die gemeinschaftliche Schaffung von Zukunftsszenarien und gesellschaftlichen Utopien. Diese sind, so Welzer, unabdingbar für die Bewältigung der aktuellen multiplen Krisen und eine Transformation hin zu einer ‚guten Gesellschaft‘. Die Ausgangsbasis seiner Überlegungen stellt ein chronischer Mangel an Zukunftsvisionen dar, den er unseren Gesellschaften attestiert. Trotz der sich zuspitzenden Krisen, die von der Überlastung der natürlichen Umwelt bis hin zu den Erschütterungen des globalen Finanzmarktes reichen, würde an dysfunktionalen und nicht-nachhaltigen Systemen festgehalten. Die Verteidigung dieses Status Quo wird, so der Autor, oftmals durch Verweise auf die Erfolgsgeschichte unseres westlichen Systems legitimiert oder aber mit einer scheinbaren „Alternativlosigkeit“ der Politik argumentiert. Es fehle an Raum für neue Ideen, dem Mut zur Veränderung und positive Zukunftsvorstellungen, die den Orientierungsrahmen dafür liefern können, wie eine lebenswerte, gemeinsame Zukunft aussehen kann.

Welzer beschreibt in seinem Werk in verständlicher Sprache und anhand von kleinen Anekdoten die zentrale Rolle von Zukunftsvorstellungen und ihr Veränderungspotential. Dabei ist eine Kernthese, dass gesellschaftlicher Wandel Utopien braucht, die dem Status Quo entgegengesetzt werden können. Voraussetzung für die Schaffung solcher Zukunftsvisionen ist, so Welzer, zunächst eine Selbstaufklärung durch ‚selbst denken‘. Für ihn heißt dies die Hinterfragung und Lossagung von Wettbewerb, Zeitdruck, Fortschritt und anderen Zwängen, die scheinbar keinen Freiraum für Veränderungen zulassen. Darauf aufbauend ruft Welzer zum Widerstand auf und zwar durch „praktiziertes Nichteinverstandensein“ (S. 287), also ein aktives Sich-nicht-abfinden-wollen mit dem Status Quo. Dieser Widerstand richtet sich somit gegen ein unhinterfragtes Weiter-wie-immer, aber auch gegen die eigenen Gewohnheiten.

„Selbst Denken“ beschränkt sich dabei nicht auf eine abstrakte Gesellschaftskritik, sondern liefert zahlreiche konkrete Lösungsansätze, wie gesellschaftlicher Wandel aussehen kann. Angefangen bei lokalen Tauschgemeinschaften bis hin zu gemeinwohlorientierten Banken. Welzer gelingt es in dem Buch auf verständliche und unterhaltsame Art und Weise, zwischen Ernsthaftigkeit und Ironie, tiefgehende Problematiken anzusprechen und dabei die Leser*innenschaft immer wieder zum Schmunzeln zu bringen. Dabei leistet er mit diesem Buch selbst einen Beitrag zu einer produktiven Zukunftsvorstellung und bezieht zeitgleich die Leserschaft in seine Reflektion mit ein. Das Buch lässt keine passive Lektüre zu. Stattdessen werden die Lesenden immer wieder mit Fragen konfrontiert, die die eigenen Gewohnheiten hinterfragen und somit zum ‚selbst denken‘ anregen.  

Harald Welzer (2014). Selbst Denken. Eine Anleitung zum Widerstand. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag.