Über den Sinn der Gabe – Warum schenken wir uns etwas?

Das Weihnachtsfest löst bei vielen von uns alljährlich wiederkehrende Gedanken, Gefühle und Fragen aus: Was war dieses Jahr gut, und was nicht so gut? Von welchen lieben Menschen mussten wir vielleicht Abschied nehmen, und wer ist neu in unser Leben getreten? Und: was sollen wir dieses Jahr bloß verschenken? Das „Sollen“ deutet bereits an, dass für viele das Schenken in der Weihnachtszeit zu einer einzigen Anstrengung geworden ist. Das betrifft zum einen die Menge von Geschenken und Abwägungen darüber, wem wir überhaupt etwas schenken möchten. Genauso machen wir uns darüber Gedanken, wer uns vielleicht etwas schenkt, das wir dann (wahrscheinlich) erwidern sollten. Wir versuchen diese Unsicherheiten zu beseitigen („Sag mal, schenken wir uns gegenseitig etwas oder nicht?“) oder den Rahmen des Schenkens genau abzustecken, etwa wenn in Freundeskreisen (vielleicht sogar im Rahmen eines bestimmten Budgets) „gewichtelt“ wird, so dass jede/r genau ein Geschenk gibt und eines bekommt. Oft wird gerade auch in Familien immer wieder diskutiert, ob man sich dieses Jahr überhaupt noch etwas schenken sollte: ist das nicht mittlerweile ohnehin überflüssig (gerade, wenn die Kinder älter sind), und ist eine Spende für gute Zwecke nicht viel sinnvoller? Das führt uns zu der Frage nach dem Maß oder der Qualität von Geschenken: Wir können uns oft nicht ganz von dem Gefühl freimachen, dass diese zumindest indirekt ausdrücken, was uns die oder der Beschenkte „wert“ ist. Sollte das Geschenk besonders teuer sein? Sollten es eher viele Kleinigkeiten sein? Sollte man statt Geld Zeit investieren und es selbst machen? Sollte das Geschenk die oder den Beschenkten direkt mit uns in Verbindung setzen, etwa wenn wir darüber an eine bestimmte gemeinsame Erfahrung erinnern, oder in erster Linie ein praktischer Funktionsgegenstand sein? Sollte es abgesprochen oder eine Überraschung sein? Es ist durchaus nachvollziehbar, dass bei all diesen unterschiedlichen Facetten des Schenkens der Wunsch aufkommen kann, sich der kompletten „Praxis des Schenkens“ entziehen zu wollen.

Damit wir wieder etwas klarer sehen, ist es an der Zeit, eine ganz andere Frage zu stellen: Nicht die Frage nach dem „was?“, sondern nach dem „warum?“ sollte dem Schenken zugrunde liegen. Warum machen wir uns überhaupt gegenseitig Geschenke? Was bezwecken wir damit, und was bedeutet es uns? Eine mögliche Antwort darauf finden wir im Werk des französischen Ethnologen und Kulturwissenschaftlers Marcel Mauss, der sich eingehend mit dem Begriff der „Gabe“ beschäftigt hat. Das Geben und Nehmen kann mit Mauss als Herzstück des Sozialen überhaupt verstanden werden, das kriegerische Auseinandersetzungen abgelöst und dadurch gemeinschaftliche Beziehungen begründet hat. Indem wir geben, weben wir soziale Netze – erst kleiner und grobmaschiger, doch über längere Zeiträume immer weiter und gleichzeitig dichter. Dieses Geflecht entsteht dadurch, dass, obwohl Gaben in aller Regel freiwillig erfolgen, sie doch einen verpflichtenden Charakter des „Zurückgebens“ mit sich bringen. Eigentlich schließen Gaben die Erwartung einer Gegengabe aus – sonst befänden wir uns schließlich eher im Bereich des Tauschens/Handelns als dem des Schenkens. Und doch sind Gaben ohne diese meist eher unterschwellige Erwartung fast kaum denkbar. Auch wenn keine unbedingte Verpflichtung zur Gegengabe besteht, so erhofft die/der Gebende zumindest Dankbarkeit. Diese in aller Regel unausgesprochene Verpflichtung, zu geben, zu nehmen und zu erwidern, erzeugt zwar Spannung und Unvorhersehbarkeit (man kann sich nie sicher sein, ob die Gabe in irgendeiner Form beantwortet wird), doch sie erzeugt gleichzeitig soziale Bindung. Marcel Mauss spricht in diesem Zusammenhang auch über eine „symbolische Dimension“ der Gabe: Wenn wir etwas geben, haftet dieser Gabe aus seiner Sicht immer auch ein Teil von uns an. Genau das macht es häufig so schwierig für uns, Geschenke wegzugeben oder auszusortieren: manche Geschenke rufen auch nach Jahren noch Gedanken an den Schenkenden hervor.

Mauss‘ Ideen zur Gabe können uns dabei helfen, neue Antworten auf die Frage zu finden, warum wir schenken. Sie zeigen, dass es beim Schenken eigentlich um viele wichtige Werte geht, die Gemeinschaft erst möglich machen: Verpflichtung, Anerkennung, Großzügigkeit, Erinnerung, Dankbarkeit. Das haben wir aber, aus Sicht des Ethnologen, in westlichen Gesellschaften zunehmend vergessen und das Schenken von Gaben auf einen ökonomischen Tausch reduziert – rechnerisches Kalkül hätte das gemeinschaftliche Element des Gebens abgelöst. Dies können wir als Auftrag und als Ansporn nehmen, die zentralen Funktionen der Gabe, wie die Stärkung sozialer Bindungen und die symbolische Verknüpfung von Schenkender und Beschenktem, wieder zu erwecken. Ein Gutschein mit einem Geldbetrag kann etwa durch einen persönlichen Brief ergänzt werden, der eine Geschichte darüber erzählt, was sich der oder die Schenkende dabei gedacht hat. Oder ein Geldgutschein kann komplett durch einen „Event-Gutschein“ ersetzt werden, in dem gemeinsam etwas Schönes unternommen wird. Wenn eine Spende im Namen der Beschenkten zugunsten eines wohltätigen Zweckes gemacht wurde, so können kleine Aufmerksamkeiten (wie selbstgemachte Plätzchen, ein Gedicht oder ein einfaches gerahmtes Foto) trotzdem eine wichtige Botschaft übermitteln: „Das hier, was zwischen dir und mir ist, bedeutet mir etwas. Lass uns daran festhalten.“ Dadurch „kostet“ das Schenken natürlich mehr Zeit (denn wir möchten uns mit der jeweiligen Beziehung beschäftigen und ihr im Geschenk Ausdruck geben), und wir „verpflichten“ uns auch gegenüber dem bzw. der Beschenkten (zum Beispiel dadurch, dass wir Zeit mit ihr oder ihm verbringen möchten). Doch ist es nicht schöner, durch das Schenken im wahrsten Sinne näher mit Freunden, Familie und KollegInnen zusammenrücken, als einfach einer allgemeinen „Geschenkepflicht“ in der Weihnachtszeit nachzukommen? Wie man diese Frage auch für sich beantworten mag, so lädt uns Marcel Mauss doch dazu ein, jenseits unserer „Gaben“ zu Weihnachten noch stärker den Menschen und unsere sozialen Beziehungen insgesamt wahrzunehmen.  In diesem Sinne wünsche ich euch ein fröhliches Schenken und Beschenktwerden!

 

Literaturhinweis:

Mauss, Marcel (1990): Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.