Wieviel „Sinn“ steckt in „Besinnlichkeit“?

Eine Weihnachtsbotschaft jenseits von Floskeln und Zynismus

Habt Ihr dieses Jahr schon Weihnachtskarten verschickt oder Euch von Kollegen und Kolleginnen in die Feiertage verabschiedet? Dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Ihr anderen „ein besinnliches Fest“ gewünscht habt. In der Regel denken wir nicht allzu viel darüber nach, was wir mit diesem Wunsch meinen – „besinnlich“ ist ein Wort, das einfach gut in diese Zeit passt. Es wird damit schnell zur Floskel. Wenn wir ernsthaft über seine Bedeutung nachdenken, merken wir aber, dass viele von uns ähnliche Dinge mit dem Ausdruck „Besinnlichkeit“ verbinden: Zeit fürs Nachdenken und Innehalten, um also tatsächlich über den Sinn nachzudenken, den wir Dingen, Ereignissen und unsrem eigenen Handeln beimessen.

Zynikerinnen und Zyniker wenden an dieser Stelle vielleicht ein, dass diese private Sinnsuche zwar theoretisch löblich wäre, praktisch jedoch aufgrund unserer beschleunigten Lebensentwürfe so gut wie nicht stattfände. In vielen Familie vollziehe sich doch wohl vielmehr Sinnentleerung statt Besinnung, in bester Loriot-Manier à la „Weihnachten bei den Hoppenstedts“. Freut auch Ihr Euch vielleicht über mehr Zeit mit der Familie, plant aber eigentlich auch einige Aufgaben über die Feiertage wegzuarbeiten und sitzt beim Festmahl gedanklich schon wieder vor dem Rechner? Sind wir vielleicht also zur Besinnlichkeit gar nicht mehr fähig?

Oder macht uns der Gedanke an Ruhe und Besinnung vielleicht manchmal auch Angst? Für mich, meine Familie und viele Menschen in meinem Umfeld war 2018 kein einfaches Jahr, sondern überschattet vom Tod naher Angehöriger, von Unfällen, Krankheiten und vielen weiteren Ereignissen, die wir gemeinhin als „Schicksalsschläge“ bezeichnen. Ich vermute, dass Ihr in der jüngeren Vergangenheit ähnliche Erfahrungen gemacht habt, und wenn nicht, wünsche ich Euch, dass diese noch lange auf sich warten lassen. Wir spüren die Auswirkungen solcher belastenden Ereignisse auf vielen Arten und Weisen: durch mangelnde Konzentrationsfähigkeit, scheinbar grundlose körperliche Beschwerden und emotionale Unausgeglichenheit. Wir finden oft nicht die Zeit, um uns bewusst mit ihnen auseinanderzusetzen. Also kehrt man zurück in seine Routinen und lenkt sich durch Entertainment-Angebote oder ähnliches erfolgreich ab. Das ist ganz normal, denn wir suchen die Entlastung, wo vorher ausschließlich Belastung war. Doch in Phasen der Ruhe und Besinnlichkeit scheint es dann manchmal, als ob alles wieder über uns hereinbricht, was wir überwunden glaubten und eigentlich zu unserem eigenen Schutz nur verdrängt, aber nie ganz verarbeitet hatten. Ist Besinnlichkeit damit nicht potenziell belastend und schmerzhaft?

Ich denke, mit der richtigen Haltung lässt sich Besinnlichkeit immer etwas abgewinnen und wünsche uns einen aufrichtigen Umgang mit Besinnlichkeit und Besinnung, im gesellschaftlichen Miteinander und im Verhältnis zu uns selbst. Wenige haben dazu trefflichere und schönere Überlegungen angestellt als der Philosoph Karl Jaspers. Für ihn war Besinnung eine Lebenskunst, die nach Möglichkeit täglich praktiziert werden sollte, um „eine Grundhaltung [zu erwerben], die hinter allen Stimmungen und Bewegungen des Tages noch gegenwärtig bleibt, bindet und mich bei Entgleisungen, Verwirrungen, Affekten doch nicht ganz ins Bodenlose sinken läßt.“ In einer sich ständig verändernden Welt, verspricht Besinnung „Ruhe in der bleibenden Unruhe unseres Lebens, das Vertrauen in den Grund der Dinge trotz entsetzlichen Unheils, die Unbeirrbarkeit des Entschlusses in den Schwankungen der Leidenschaften, die Verläßlichkeit der Treue in den verführenden Augenblicklichkeiten dieser Welt.“

Zunächst mögen uns diese Ausführungen als hübsche Prosa erscheinen, die wir ebenso in Lifestyle-Magazinen oder auf Yoga-Flyern wiederfinden könnten. Doch Karl Jaspers geht es um viel mehr als eine gesteigerte Sorge um das eigene Selbst oder Ich-Kult. Es geht ihm darum zu erkennen, wie wir gegenwärtig und in Zukunft leben wollen. Dieses Erkennen braucht eine Offenheit für Dinge, die größer als wir selbst sind, für Besinnung auf das, was gegenwärtig zu tun ist und vor allem für Selbstreflexion. Jaspers beschreibt im Detail, wie diese aussehen kann: „Ich vergegenwärtige mir, was ich den Tag getan, gedacht, gefühlt habe. Ich prüfe, was falsch war, wo ich unwahrhaftig mit mir selbst war, wo ich ausweichen wollte, wo ich unaufrichtig war. Ich sehe, wo ich mir zustimme und mich steigern möchte. Ich mache mir die Kontrolle bewußt, die ich über mich selbst vollziehe, und wie ich sie festhalte den Tag hindurch. Ich urteile über mich – in Bezug auf mein einzelnes Verhalten, nicht in Bezug auf das mir unzugängliche Ganze, das ich bin – ich finde Grundsätze, nach denen ich mich richten will, fixiere mir vielleicht Worte, die ich im Zorn, in der Verzweiflung, in der Langeweile und anderen Selbstverlorenheiten mir zusprechen will, gleichsam Zauberworte, die mich erinnern (etwa: maßhalten, an den anderen denken, warten, Gott ist).“ Diese Form der Selbstreflexion hat nichts mit Wellness für den Geist zu tun. Sie fordert vielmehr Mut dazu, sich aufrichtig mit sich selbst und dem eigenen Verhalten auseinanderzusetzen. Das kann uns einiges abverlangen, denn im Zuge dieser Auseinandersetzung können auch schmerzhaft Gefühle und Erinnerungen aus der Versenkung aufsteigen, die wir aus irgendwelchen Gründen dorthin verbannt hatten. Doch wenn wir uns immer wieder in der Selbstreflektion und Besinnung üben, kann sie zu einer wohltuenden Routine werden und dann immer weniger Überwindung fordern.

Das Zulassen, Reflektieren und Einordnen unserer tagtäglichen Gedanken ist damit (nach Jaspers) der Weg zu einer gesteigerten Urteilsfähigkeit und einem erfüllteren, da sinnvolleren Leben. Besinnung führt demnach zu einem Mehr an Sinn. Aber, so ergänzt er, das gelingt nur, wenn wir andere in unser Nachdenken über das eigene Handeln einbeziehen: „Was ich in der Besinnung für mich allein gewinne, das ist – wenn es alles wäre – wie nicht gewonnen. Was sich nicht in Kommunikation verwirklicht, ist noch nicht, was nicht zuletzt in ihr gründet, ist ohne genügenden Grund. Die Wahrheit beginnt zu zweien.“ Unsere Einschätzungen und Wahrnehmungen gewinnen nach Karl Jaspers nur dann an Gewicht für unser eigenes Leben, wenn wir sie mit anderen teilen. Und auch hier wird uns wieder extremer Mut abverlangt, denn wir können nie sicher wissen, wie andere auf unsere geteilten Gedanken reagieren – Offenheit macht Menschen letztlich angreifbar und verletzlich. Doch gerade durch dieses Sich-Anvertrauen gewährt der Einzelne seinem Gegenüber einen Vertrauensvorschuss und verleiht der Hoffnung Ausdruck, dass durch die Kommunikation etwas Gutes entstehen mag. Dafür braucht es dann aber auch einen ehrlich interessierten Zuhörenden, denn wer das Gefühl hat, nicht gehört zu werden, wird in seine Selbstreflektion irgendwann niemand anderen mehr einbeziehen und sie vielleicht sogar ganz aufgeben

Die Hinweise, die Karl Jaspers aus philosophischer Sicht für die menschliche Lebensführung formuliert, wirken für viele von uns vielleicht erst einmal fremd. Ja, wir wissen, dass wir mehr über uns selbst nachdenken sollten, mehr mit unseren Partnerinnen und Partnern, Kindern, Eltern, Geschwistern oder Freundinnen und Freunden über das, was uns wirklich bewegt, reden sollten. Gleichzeitig ist jedoch genau das, was furchtbar leicht sein sollte, manchmal entsetzlich schwer. Ich schlage daher folgendes vor: Nehmt Euch jeden Tag 5 Minuten Zeit, nur für Euch, ohne Hintergrund-Beschallung. Lasst den Tag kurz vor eurem inneren Auge vorbeiziehen: Was hat euch beschäftigt? Wie beurteilt ihr eure Gedanken? Wie euer Handeln? Wählt eine Sache aus, die Euch in der Reflektion als Erkenntnis kommt, die über eine reine Zusammenfassung des Tagesverlaufs hinausgeht, und die Ihr für mitteilungswürdig haltet, aus welchen Gründen auch immer. Überlegt, wem Ihr diesen Gedanken gerne mitteilen möchtet, und tut dies. Ich möchte behaupten, dass wir genau das, was gerade beschrieben wurde, im Grunde schon oft machen („Schatz, ich habe mir heute Mittag überlegt, dass…“), nur selten in vollem Bewusstsein. Ändert sich vielleicht wirklich etwas, wenn wir uns zunächst besinnen? Ich denke es gibt nur einen Weg, dies herauszufinden…

In diesem Sinne, und in keinem anderen, wünsche ich Euch ein besinnliches Weihnachtsfest.

Zitate aus:

Jaspers, Karl (1953): „Einführung in die Philosophie“. München: R. Piper & Co.