Nachhaltigkeit trifft Demokratie: Der Bürgerrat Ernährung

Luisa König & Karen Siegel

Wie können wir unsere Ernährung nachhaltiger und zukunftsfähiger gestalten? Mit dieser Frage beschäftigte sich ein nationaler Bürgerrat, welcher 2023 erstmals vom Deutschen Bundestag ins Leben gerufen wurde. Dies hat umfassende Berichterstattungen in den Medien ausgelöst, aber auch in der wissenschaftlichen Debatte an Anklang gefunden. In diesem Blogartikel wird daher grundlegend untersucht, welche Ideen und Potentiale hinter dieser demokratischen Innovation stecken.

Das Spannungsverhältnis: Demokratie und Nachhaltigkeit

Demokratien entwickeln sich aktuell vor dem Hintergrund erheblicher Herausforderungen, wie dem Umgang mit der Klimakrise und einer damit verbundenen politischen und gesellschaftlichen Transformation (Fritsch, 2023). Ein entscheidender Aspekt im Umgang mit gegenwärtigen Krisen ist die Frage, welche Rolle Bürger*innen in politischen Prozessen einnehmen sollten. Vertrauen und Zustimmung der Bevölkerung sind essenziell für die Legitimation von Maßnahmen, wie etwa im Klimaschutz, und wirken als treibende Kraft für tiefgreifende Transformationsprozesse. So argumentieren z.B. Pitkin und Shumer, zwei bekannte amerikanische Politikwissenschaftlerinnen, dass Bürger*innen durch ihre vielfältigen Perspektiven und Ideen zusammen mit Expert*innen einen wichtigen Beitrag zur Lösung politischer Herausforderungen beitragen können. Auch im Rahmen von nachhaltig gedacht wurde die Relevanz der Rolle von Bürger*innen im Kontext nachhaltiger Transformationsprozesse bereits mehrfach diskutiert, beispielsweise im Projekt BIOCIVIS.

In der Realität zeigen Krisensituationen häufig, dass sie Unsicherheiten und gesellschaftliche Distanzen verstärken können. Dies liegt unter anderem daran, dass politische und wissenschaftliche Entscheidungsprozesse oft sehr komplex sind und deswegen, auch bei Themen wie dem Klimaschutz, zunehmend hinterfragt werden. Diese Unsicherheiten werden zusätzlich durch Sorgen über die Zukunftsfähigkeit von Arbeitsplätzen und steigenden Lebenshaltungskosten verstärkt und erschweren somit nachhaltige Transformationen. Hierdurch wird die Notwendigkeit deutlich, die Rolle der Bürger*innen in diesen Prozessen neu zu denken (Renn, 2024).

Ergänzend zu der Schwierigkeit, die Rolle von Bürger*innen im Kontext von Krisen einzuordnen, lassen sich auch Probleme innerhalb des institutionellen demokratischen Gefüges erkennen. So erfordern bspw. nachhaltige Transformationsprozesse eine langfristige Handlungsbereitschaft, was jedoch im Kontext regelmäßig wechselnder Regierungen nur schwer umsetzbar ist. Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen der Notwendigkeit langfristiger und umfassender Lösungen für globale Probleme und den eher kurzfristig ausgerichteten Regierungszyklen. Zudem zeigt sich, dass politische Systeme oft stark auf die eigene Bevölkerung oder auch auf den jeweiligen Wahlkreis fokussiert sind, sodass Perspektiven von Menschen aus anderen Ländern oder zukünftigen Generationen kaum Einfluss nehmen (können).

Festzuhalten ist, dass der demokratische Umgang mit Krisen – insbesondere der Klimakrise – sowohl in Bezug auf die Rolle der Bürger*innen als auch auf institutioneller Ebene potenzielle Herausforderungen birgt. In der wissenschaftlichen Literatur wird daran anknüpfend über das grundlegende Verhältnis von Demokratie und Nachhaltigkeit vertiefend debattiert (Dietz et al., 2023). Es gibt jedoch verschiedene Argumente, die dafür sprechen, dass Demokratien besser als Autokratien dafür geeignet sind mit der Klimakrise umzugehen, da z.B. die Teilnahme an internationalen Umweltverhandlungen, eine freie Presse und Bürger*innenbeteiligung förderlich für eine nachhaltige Transformation sind. Im Fall von Argentinien konnten wir beispielsweise sehen, dass die Rückkehr zur Demokratie in den 1980s Jahren nach einer brutalen Militärdiktatur ein zentraler Faktor war, um zivilgesellschaftliche Organisationen zu stärken und staatliche Institutionen für Ansätze zu öffnen, die die schwerwiegenden sozialen und ökologischen Folgen des stetig wachsendem Sojaanbaus aufgezeigt and Alternativen gefördert haben (Deciancio und Siegel, 2023).

Die Idee von Bürgerräten

Dieser Blogartikel legt daher ein besonderes Augenmerk auf demokratische Initiativen, die darauf abzielen, gesellschaftliche und institutionelle Herausforderungen zu bewältigen und somit nachhaltige Transformationen zu erleichtern. Ein konkreter Ansatz besteht darin, die Beteiligung der Bürger*innen im politischen System zu stärken, um Zielkonflikte und Kompromisssetzungen besser nachvollziehen zu können (Renn, 2024). Den Ausbau der Bürger*innenbeteiligung stellen unter anderem Democratic Innovations in den Vordergrund. Konkret zielen diese darauf ab, die demokratische Qualität zu verbessern, indem neue Prozesse und Institutionen gebildet werden, welche Partizipation, Deliberation und Einfluss in den Mittelpunkt stellen (Elstub & Escobar, 2019).

Das Konzept der demokratischen Innovationen hat in den letzten Jahren erheblich an Popularität gewonnen, ebenso werden sie auch im Kontext von Nachhaltigkeit und Klimawandel verstärkt verwendet. Sie sind im Rahmen der Schnittstelle Demokratie und Nachhaltigkeit besonders interessant, da sie die demokratische Legitimität sowie die öffentliche Akzeptanz für politische Entscheidungen stärken können. Darüber hinaus können sie auch institutionellen Hürden begegnen, indem sie vor allem bei Fragen der nachhaltigen Transformation beispielsweise auch die Perspektive zukünftiger Generationen besser inkludieren können (Bäckstrand, 2012). Bürgerräte sind ein Beispiel für eine demokratische Innovation. Die Hauptmerkmale von Bürgerräten sind, dass die Teilnehmenden nach dem Zufallsprinzip ausgewählt werden und dann lösungsorientiert miteinander diskutieren (bzw. deliberieren). Dabei erhalten sie Expert*innen-Input, der hilft, zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen, meistens in Form von Policy-Empfehlungen.

Die Umsetzung

Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Debatte wundert es nicht, dass es nationale Bürgerräte beispielsweise schon in Irland, Frankreich, Schottland, Dänemark oder dem Vereinten Königreich (UK) gab. Bei einem nationalen Bürgerrat zu energiepolitischen Themen im UK hat sich beispielsweise gezeigt, dass  Bürger*innen sich mit komplexen Informationen auseinandersetzen konnten und ihre eigenen Perspektiven sowie Wissen einbringen (Ainscough & Willis, 2024). Auch bei einem Bürgerrat in Vancouver zum Thema urban planning zeigte die Evaluation, dass die demokratische Legitimität des Entscheidungsprozesses gestärkt und insgesamt auf demokratische Herausforderungen reagiert werden konnte (Beauvais & Warren, 2019). Und das sind nur zwei von vielen Beispielen, die aufzeigen, welches Potential Bürgerräte aufweisen können. In Deutschland gab es auch bereits verschiedene partizipative Formen, welche sich mit nachhaltigen Themen auseinandersetzten: bspw. das Klimaforum Bonn, einen Bürgerrat zum Thema Nachhaltiges Leben in Jülich und in Mannheim den Bürgerrat Klimaschutz 2030.

Hier anknüpfend beschloss der Deutsche Bundestag am 10. Mai 2023, einen nationalen Bürgerrat ins Leben zu rufen, der sich mit dem Thema „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ befassen sollte. Der Bürgerrat setzte sich unter anderem mit Fragen rund um den Gesundheitsschutz, der Umwelt- und Klimaverträglichkeit, sowie der Produktion und Kennzeichnung von Lebensmitteln auseinander (Deutscher Bundestag, o. J.). Ziel war es zunächst, das Beteiligungsformat Bürgerrat als Element der Bürgerbeteiligung auf Bundesebene zu erproben. Dabei sollten Menschen gehört werden, die sich nicht explizit in Parteien oder ähnlichem engagierten, was neue Dynamiken im demokratischen System entfachen sollte. Konkreter sollte ein differenziertes Meinungsbild der Bürger*innen erkennbar und durch konkrete Empfehlungen untermauert werden (Mehr Demokratie et al., 2023).

Insgesamt wurden 160 Teilnehmende per Zufall ausgewählt, wobei die demografische Zusammensetzung nach Alter, Geschlecht, Herkunft und Ernährungsweise repräsentativ gestaltet wurde. Dies war besonders relevant, da die Schaffung eines repräsentativen Abbilds der Gesellschaft eine zentrale Herausforderung für Bürgerräte darstellt (Strothmann & Liesenberg, 2024). Der Bürgerrat tagte von Ende September 2023 bis Mitte Januar 2024. Aus verschiedenen Sitzungen entstanden etwa neun Maßnahmenempfehlungen, die im Januar 2024 an die Abgeordneten des Bundestags übergeben wurden. Die Empfehlungen umfassen unter anderem ein kostenloses Mittagessen für alle Kinder, die Förderung bewussten Einkaufens durch ein verpflichtendes staatliches Label, sowie eine gesetzliche Verpflichtung zur Weitergabe genießbarer Lebensmittel durch den Lebensmitteleinzelhandel.

Der Bundestag kann die vorgeschlagenen Maßnahmen nun beschließen, ist jedoch nicht dazu verpflichtet. Der Umgang mit den erarbeiteten Empfehlungen variiert je nach Bürgerrat. Dies stellt ebenfalls eine erhebliche Herausforderung dar. Die Wirksamkeit von Bürgerräten hängt im Wesentlichen von der Umsetzung ihrer Empfehlungen in konkrete Maßnahmen ab. Dadurch werden die Teilnehmenden nicht enttäuscht und ihr Engagement gestärkt (Strothmann & Liesenberg, 2024).

Für die erste der neun Empfehlungen, „Kostenfreies Mittagessen für alle Kinder“, wurde bereits ein öffentliches Fachgespräch veranstaltet. In diesem wurden soziale und gesundheitliche Benefits auf der einen Seite und finanzielle Hürden auf der anderen Seite debattiert (Wochenzeitung „das Parlament“, 2024). Sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Niedersachsen ist diese Maßnahme Bestandteil des Koalitionsvertrages der jeweiligen Landesregierung. Eine Umsetzung ist jedoch aus finanziellen Gründen in beiden Bundesländern nicht absehbar (NDR, 2024; Rheinische Post, 2024). Anders hingegen sieht es in anderen europäischen Ländern aus. In Schweden und Finnland sind kostenfreie Mittagessen schon seit Jahrzehnten vorhanden. Auch zu der Maßnahme „gesetzliche Verpflichtung zur Weitergabe genießbarer Lebensmittel durch den Lebensmitteleinzelhandel“ gab es kürzlich ein Fachgespräch. Dabei herrschte breite Zustimmung dafür, den Anteil an Kooperationen mit der Tafel und anderen sozialen Trägern zu erhöhen und entsprechende rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen. Diskutiert wurde, ob dies bedeuten sollte, den Lebensmitteleinzelhandel zur Abgabe zu verpflichten oder seine Möglichkeiten zur Lebensmittelspende zu erweitern. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Frankreich Supermärkten bereits seit 2016 verbietet, genießbare Lebensmittel wegzuwerfen (Deutscher Bundestag, 2024).

Ausblick

Der Bürgerrat Ernährung ist der erste nationale Bürgerrat, welcher vom Deutschen Bundestag ins Leben gerufen wurde und sich mit verschiedenen Aspekten rund um das Thema Ernährung auseinandersetzte. Sein Ziel war es, zur Belebung der Demokratie beizutragen, eingebettet in die breitere Diskussion über das Verhältnis von Demokratie und Nachhaltigkeit. Es gibt sowohl theoretische (z.B. die potentielle Förderung von Akzeptanz und Legitimität, aber auch der institutionell offenere Rahmen) als auch empirische Argumente (z.B. die Positivbeispiele aus dem UK und Kanada), die den Einsatz eines Bürgerrats befürworten. Dabei kann festgehalten werden, dass der Bürgerrat an mehrere Herausforderungen moderner Demokratien anknüpft. Trotzdem bleibt abzuwarten, wie die Bundesregierung die Ergebnisse aufgreift und in welchem Umfang sie diese tatsächlich umsetzen wird. Dies wird einen erheblichen Einfluss auf die Evaluation des Projektes haben.

Literaturverzeichnis

Ainscough, J., & Willis, R. (2024). Embedding deliberation: Guiding the use of deliberative mini-publics in climate policy-making. Climate Policy, 24(6), 828–842. https://doi.org/10.1080/14693062.2024.2303337

Bäckstrand, K. (2012). Democracy and global environmental politics. Handbook of Global Environmental Politics, Second Edition, 507–519. https://doi.org/10.4337/9781849809405.00051

Beauvais, E., & Warren, M. E. (2019). What can deliberative mini‐publics contribute to democratic systems? European Journal of Political Research, 58(3), 893–914. https://doi.org/10.1111/1475-6765.12303

Bosse, J., Knoppik, S., & Wiedmann, O. (2021). Wirksamer Klimaschutz mit Bürgerräten. Ökologisches Wirtschaften – Fachzeitschrift, 2, 26–27. https://doi.org/10.14512/OEW360226

Deciancio, M. & Siegel, K.M. (2023) The Emergence of Alternative Sociotechnical Imaginaries in Argentina’s Agricultural Sector: Lessons for Democracy and Sustainability. Politische Vierteljahresschr 64 (4), 741–762. https://doi.org/10.1007/s11615-023-00502-1

Deutscher Bundestag. (o. J.). Bürgerrat Ernährung im Wandel. Deutscher Bundestag. Abgerufen 20. August 2024, von https://www.bundestag.de/buergerrat_ernaehrung

Deutscher Bundestag. (2024). Deutscher Bundestag—Fachgespräch „Verpflichtende Weitergabe genießbarer Lebensmittel“. Deutscher Bundestag. https://www.bundestag.de/ausschuesse/a10_ernaehrung_landwirtschaft/veranstaltungen/1015342-1015342

Dietz, T., Fuchs, D., Schäfer, A., & Vetterlein, A. (2023). Introduction: Mapping the Research Field on the Democracy–Sustainability Nexus. Politische Vierteljahresschrift, 64(4), 695–714. https://doi.org/10.1007/s11615-023-00511-0

Elstub, S., & Escobar, O. (2019). Defining and typologising democratic innovations. In S. Elstub & O. Escobar (Hrsg.), Handbook of Democratic Innovation and Governance. Edward Elgar Publishing. https://doi.org/10.4337/9781786433862.00009

Fritsch, M. (2023). Climate Change and Democracy. In G. Pellegrino & M. Di Paola (Hrsg.), Handbook of the Philosophy of Climate Change (S. 1001–1026). Springer International Publishing. https://doi.org/10.1007/978-3-031-07002-0_142

Mehr Demokratie, Nexus, IPG – Institut für partizipatives Gestalten, & ifok. (2023). Detailkonzept. Bürgerrat: Ernährung im Wandel. Zwischen Privatangelegenheiten und staatlichen Aufgaben.

NDR. (2024). Kostenloses Schulessen in Niedersachsen nicht in Aussicht. https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Kostenloses-Schul-Essen-in-Niedersachsen-nicht-in-Aussicht,schulessen210.html

Pitkin, H. F., & Shumer, S. M. (2016). 70. On Participation. In R. Blaug & J. Schwarzmantel (Hrsg.), Democracy (S. 391–396). Columbia University Press. https://doi.org/10.7312/blau17412-085

Renn, O. (2024). Resilienz und Klimaschutz: Anforderungen aus der Perspektive der Partizipationsforschung. In M. Böhm & M. Ludwigs (Hrsg.), Klimaschutz und Resilienz (S. 19–36). Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. https://doi.org/10.5771/9783748919964-19

Rheinische Post. (2024). NRW: Kein kostenloses Mittagessen für alle Schüler. https://rp-online.de/nrw/landespolitik/nrw-kein-kostenloses-mittagessen-fuer-alle-schueler_aid-106692017

Strothmann, L., & Liesenberg, K. (2024). Beyond the Hype: Was es braucht, damit Bürgerräte tatsächlich die Demokratie stärken. In H. Kleger & A. Klein (Hrsg.), Demokratiepolitik (S. 99–116). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-43201-0_6

Wochenzeitung „das Parlament“. (2024). Finanzierung des kostenlosen Schulmittagessens offen. https://www.das-parlament.de/wirtschaft/ernaehrung/finanzierung-des-kostenlosen-schulmittagessens-offen

Autorinnenbeschreibung

Luisa König hat ihren Bachelor in Philosophy, Politics and Economics (PPE) an der HHU Düsseldorf abgeschlossen und studiert derzeit den Masterstudiengang Politikwissenschaft: Nachhaltigkeit und Demokratie an der Universität Münster. Neben ihrem Studium arbeitet sie als studentische Hilfskraft im SaBio-Projekt.

Dr’in Karen Siegel ist Nachwuchsgruppenleiterin der Forschungsgruppe “Transformation und Nachhaltigkeits-Governance in Bioökonomien Südamerikas” am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Münster und Mitglied des Zentrums für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN). Die Nachwuchsgruppe ist Teil des interdisziplinären SABio-Projekts, das an der Schnittstelle von Agrarökonomie (Universität Bonn) und Politikwissenschaft (Universität Münster) arbeitet.