Planetare Verantwortung als Thema von Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie

Simone Sinn

Aktuelle Forschung zur sozial-ökologischen Transformation in Deutschland spricht von einer „gläsernen Decke“, einer unsichtbaren Barriere, die den notwendigen Veränderungen im Wege stehe (Kreinin et al. 2024). Für tiefgreifende Veränderungen brauche es einen kulturellen Wandel, in dem gemeinsam ein neues Verantwortungsparadigma entsteht. Es ist deutlich, dass ein Umdenken in verschiedenen Bereichen in der Gesellschaft nötig ist, in einem Zusammenspiel verschiedener Akteure.

Um den Wandel zu ermöglichen, ist es wichtig, dass die Akteure ein substantielles und praxisrelevantes Verständnis von Verantwortung entwickeln. Wie an anderer Stelle gezeigt wird, können unter anderem Religionsgemeinschaften und ihre theologische und ethische Reflexion einen Beitrag dazu leisten, dass weltanschauliche Grundlagen kritisch-konstruktiv diskutiert werden (Klingenborg und Fuchs 2022).

In der Tat hat innerhalb verschiedener theologischer Disziplinen die drängende Frage nach dem Umgang mit den ökologischen Krisen zunehmend an Aufmerksamkeit gewonnen. Angesichts der planetaren Krise braucht es engagierten bibelwissenschaftlichen, historischen, ethischen, systematisch-theologischen und praktisch-theologisch-pädagogischen Sachverstand, um unsere Denk- und Handlungsmuster, unsere Glaubenssätze, Werte und Lebensstile kritisch-konstruktiv unter die Lupe zu nehmen.

Als jüngstes Fach innerhalb der klassischen Disziplinen in der Evangelischen Theologie will nicht zuletzt die „Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie“ (RWIT) Denkanstöße in die Nachhaltigkeitsdiskurse einbringen. Charakteristisch für dieses Fach ist erstens, dass es die vorherrschenden christlichen Diskurse in Europa ins Gespräch bringt mit christlichen Perspektiven aus dem Globalen Süden. Zweitens engagiert es sich für eine interreligiöse Öffnung der Diskurse und bearbeitet drittens grundsätzliche Fragen rund um das Stichwort „Religion“ und das Verhältnis von Transzendenz und Immanenz.

Dabei würde es zu kurz greifen, das Anliegen von RWIT auf eine geographische Diskursverschiebung in den Global Süden zu verkürzen. Vielmehr geht es darum, globale Verflechtungen im Blick auf die politischen Rahmenordnungen, die sozio-ökonomischen Verhältnisse, die ökologischen Veränderungen, und die intersektionalen Diskriminierungsverhältnisse in ihrem Wechselspiel mit religiös-weltanschaulichen Dynamiken zu analysieren. Dies führt zur epistemologischen Frage nach dem interpretativen „Zugriff“ auf planetare Realitäten und Risiken sowie ein vertieftes Verständnis von öko-sozialer Gerechtigkeit und entsprechenden Verantwortlichkeiten.

Ökotheologie entdecken

Diese epistemologischen wie die damit verbundenen handlungsleitenden Fragen habe ich im Sommersemester 2024 mit Studierenden der Evangelisch-Theologischen Fakultät diskutiert. Im Seminar zu „Ökotheologischen Perspektiven im Schnittfeld lokaler Erfahrung und globaler Verflechtung“ haben wir exemplarisch Texte von Theolog*innen aus verschiedenen Kontexten (Ozeanien, Indonesien, Burkina Faso, Brasilien, Deutschland) gelesen, welche die je spezifischen ökologischen Herausforderungen theologisch und ethisch diskutieren.

Die Studierenden haben intensiv über die Rolle des Menschen im Blick auf die ökologischen Krisen nachgedacht und gefragt, wie die Anthropozentrik, die den Menschen als Dreh- und Angelpunkt der Welt positioniert und die in Theologie und Philosophie höchst wirkmächtig war, überwunden werden kann. Indem die Studierenden sich mit den genannten Kontexten und den jeweiligen Strategien auf der Diskurs- und Handlungsebene beschäftigt haben, wurde deutlich, wie bedeutsam Handlungsfähigkeit ist, Menschen wollen und sollen sich als handlungsfähig erleben inmitten der Krisen, jenseits von Allmachtsphantasien.

Die wechselseitigen Abhängigkeiten auf der Erde zwischen allen Geschöpfen können nicht einfach als anonyme Dynamiken beschrieben werden. Es muss vielmehr darum gehen, die vielfältigen Beziehungen wertzuschätzen. Sie können transformative Kraft freisetzen, wenn die jeweils Beteiligten anerkannt und als Gegenüber in Solidarität ernst genommen werden.

Die Seminardiskussionen haben gezeigt, dass es wichtig ist, mit verschiedenen Akteuren, ihren Deutungs- und Handlungsstrategien ins Gespräch zu kommen. Das können kraftvolle Anstöße für kulturellen Wandel hin zur sozial-ökologischen Transformation sein. Da gab es durchaus auch Momente der Desillusionierung: Es gibt kein Zurück in das Ideal einer Vergangenheit von scheinbar harmonischen ökologischen Verhältnissen. Im Gegenteil, es gibt lokal wie planetarisch viele Verwundungen, himmelsschreiende Ungerechtigkeit und ethische Herausforderungen.  Gleichzeitig nimmt das Sich-Einlassen auf konkrete Andere und ihren Umgang mit den ökologischen Krisen dem Luxus der Hoffnungslosigkeit und dem Fatalismus seinen Charme. Wo Menschen miteinander ins Denken und ins Handeln kommen, werden Verantwortung und Solidarität gestärkt und entfalten eine innere Logik und eine nachhaltige Wirkung.

Literaturverzeichnis
Halliki Kreinin, Pia Mamut, Doris Fuchs, “The ‘glass ceiling’ of Germany’s socio-ecological transformation: Citizen, expert, and local stakeholder perspectives on responsibility for change”, Zeitschrift für Politikwissenschaft 34 (2024), 273–293.

Hannah Klinkenborg und Doris Fuchs, “Religion: A resource in European climate politics? An examination of faith-based contributions to the climate policy discourse in the EU”, Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 6 (2022), 83–101.

Zum Weiterlesen
Willis Jenkins, Mary Evelyn Tucker, John Grim (Hrsg.), Routledge Handbook of Religion and Ecology (London: Routledge, 2017)

Grace Ji-Sun Kim und Hilda Koster (Hrsg.), Planetary solidarity. Global women’s voices on Christian doctrine and climate justice (Minneapolis: Fortress Press, 2017)

Raimundo C. Barreto, Graham McGeoch, Wanderley Pereira da Rosa (Hrsg.), World Christianity and Ecological Theologies (Minneapolis: Fortress Press, 2024).

Autorinnenbeschreibung
Simone Sinn ist seit März 2024 Professorin für Religionswissenschaft und Interkulturelle Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Davor war sie Professorin am Ökumenischen Institut in Bossey und hat im Ökumenischen Rat der Kirchen in Genf gearbeitet.