Zugehörigkeit ist mehr als ein Label

Die Bedeutung der Besonderheiten von Städten für das Handeln ausgewählter Akteur*innen

Jessica Hoffmann

Motivation und zentrale Fragen

Grundsätzlich können Städte als zentrale Begegnungsorte und Knotenpunkte moderner Gesellschaften verstanden werden. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer regionalen Lage und Einwohner*innenzahl, sondern vor allem durch ihre historischen, kulturellen und städtebaulichen Entwicklungen. Fragen nach den Besonderheiten von Städten prägen nicht nur stadtplanerische Diskurse, sondern sind auch zentral für das Stadtmarketing, das Tourismusmanagement und als Standortfaktor. Wissenschaftlich werden mit diesen Fragen auch häufig Konzepte wie Eigenlogik (Löw 2018), Eigenart (WBGU 2016) und Eigensinn von Städten (Willinger 2022) in Verbindung gebracht. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass vor allem die Verbindungen der Bürger*innen mit ihrem Ort entscheidend für den Zusammenhalt und die Lebensqualität in der Stadt sind (Blokland 2024; Förster et al. 2024). Darüber hinaus berühren sie auch zentrale Dimensionen sozialer Nachhaltigkeit: Wie entstehen Zugehörigkeit, Vertrauen und Verantwortungsgefühl in städtischen Räumen? Was verbindet Menschen miteinander, und welchen Einfluss hat auch das städtische Verwaltungshandeln auf diese Prozesse?

Im Rahmen des DFG-geförderten Forschungsprojekts „Digitale Mittelstadt der Zukunft (FOR 5393)“ wurde aus sozialwissenschaftlicher Perspektive grundlagentheoretisch untersucht, welche Bedeutung die genannten Besonderheiten von Städten für das Handeln von ausgewählten Akteuren in der Mittelstadt haben? Hierzu zählen im Münsterland bspw. Greven, Ahaus, Senden oder Emsdetten. Mittelstädte bieten für die Beantwortung dieser Forschungsfrage ein aufschlussreiches Feld, da sie eine Schnittstelle zwischen ländlicher Überschaubarkeit und urbaner Komplexität darstellen. Als Mittelstädte gelten dabei laut deutscher Gemeindestatistik offiziell Städte mit 20.000 – 100.000 Einwohner*innen. Aktuelle Studien verdeutlichen, dass die 626 Mittelstädte in Deutschland stark voneinander unterscheiden, nicht nur entlang ihrer Einwohner*innenzahl und regionalen Lage, sondern sich auch hinsichtlich ihrer historischen, politischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen ausdifferenzieren.

Ahaus Stadt, Ausschnitt aus Vogelperspektive
Quelle: Dietmar Rabich / Wikimedia Commons / “Ahaus, St.-Mariä-Himmelfahrt-Kirche — 2014 — 2364” / CC BY-SA 4.0

Um diesem Forschungsinteresse nachzugehen, wurde ein interdisziplinäres Forschungsdesign gewählt. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive erfolgte eine quantitative Analyse, in der die Stadtlabels zunächst geclustert und anschließend anhand ihrer Zielsetzungen ausgewertet wurden. Aus soziologischer Perspektive wurden Gruppeninterviews mit zivilgesellschaftlichen Initiativen durchgeführt, die ihre Stadt mitgestalten wollen.

Diese interdisziplinäre Studie, deren Ergebnisse in diesem Beitrag vorgestellt werden, orientierte sich an den folgenden konkreten Fragen:

  • Welche Merkmale deutscher Mittelstädte sind für die Darstellung der Stadt in der Öffentlichkeit bzw. im Stadtmarketing besonders wichtig?
  • Wie werden die Mittelstädte von zivilgesellschaftlichen Initiativen beschrieben und welchen Einfluss haben diese Charakteristika auf das Engagement in der und auf die Verbindung mit der Stadt?

Zentrale Ergebnisse

In der ersten Studie wurde analysiert, welche Themen in den offiziellen Stadtlabels, verstanden als Ausdruck institutioneller und strategischer Narrative, angesprochen werden. Hierzu wurden 285 mittelstädtische Stadtlabels entlang ihrer historischen, geographischen, politischen oder anderen bedeutenden Eigenschaften kategorisiert. Dabei stellten wir fest, dass 30 % der Labels sich auf die regionalen, lokalen oder ökologischen Besonderheiten (z. B. „Luftkurort“ oder „Stadt am Main“) fokussierten, 23 % auf kulturelle oder historische Ereignisse oder berühmte Persönlichkeiten (z. B. „die Wikingerstadt“ oder „die Hermann-Hesse-Stadt“), 18 % auf besondere Alleinstellungsmerkmale (z. B. „die Mähdrescherstadt“ oder „die Pferdestadt“) und 15 % auf Gemeinschaft (z. B. „unsere Stadt“ oder „Stadt der Generationen“). Nur 14,5 % der Stadtlabels konnten mit tatsächlichen politischen Leitbildern im Sinne einer Policy (z. B. „die digitale Stadt“ oder „die Mitmachstadt“) in Verbindung gebracht werden. Auf dieses Ergebnis werden wir später zurückkommen.

Um sich der zweiten Forschungsfrage zu nähern, wurden in einem zweiten Schritt Vereine in drei Städten in Nordrhein-Westfalen ausgewählt, die sich maßgeblich für die Mitgestaltung ihrer Stadt einsetzen und hierdurch einen Einfluss auf die Lebensqualität nehmen (BBSR 2021, Engagierte Stadt 2018). Hierzu konnten Vereine gewonnen werden, die sich bereits seit vielen Jahren für die Themen Kulturarbeit, Schaffung von Begegnungsräumen und Infrastrukturen sowie Umwelt- und Naturschutz engagieren. Mit insgesamt 14 Teilnehmer*innen wurden vier leitfadengestützte Gruppeninterviews[1] durchgeführt, in denen die Teilnehmenden unter anderem dazu befragt wurden, wie sie ihre Stadt beschreiben würden.

Hierbei zeigte sich, dass sich alle Vereine stark mit ihrer Stadt bzw. ihrem Stadtteil, für den sie sich engagieren, verbunden fühlten. Die Motivation ihres Engagements wurde vielfach mit Entwicklungen in ihrer Stadt bzw. ihres Stadtteils begründet, und sie wollten ihren Teil dazu beitragen. So hieß es in einem Interview:

„Also wir sind bei allen, allen Themen, so was den Stadtteil angeht, fühlen wir uns immer angesprochen, ja, diskutieren das und bringen uns dann ein oder auch mit Anträgen und wenden uns an die politischen Vertreter, beispielsweise auch im Gespräch einfach mal so, gucken wir mal, wie die Meinungen so sind und dann äußern wir uns schon in der Öffentlichkeit, auch in der Presse, das machen wir, alles im Sinne und zum Wohle der Bürger hier oder eines geselligen Beisammenseins“ (Gruppengespräch V1: 686-692).

Durch das Ziel der Initiativen, ihre Stadt mitzugestalten, kommen sie auch immer wieder mit Vertreter*innen aus Verwaltung und Politik in Kontakt. Die Erfahrungen in diesen Kooperationen reichen von Unterstützung und Ermöglichung bis zu Blockaden und Ablehnung. Meist sind sie sehr differenziert und durch langjährige Zusammenarbeit gewachsen. Für die Frage, wie sich das Bild der Stadt auf die zivilgesellschaftlichen Initiativen auswirkt, zeigte sich, dass vor allem die konkreten Interaktionen zwischen Vertreter*innen der Stadtverwaltung und Bürger*innen bzw. Vereinsmitgliedern einen entscheidenden Einfluss auf die Stadt und auf die Identifikation der Bürger*innen mit ihrer Stadt haben.

Mit Blick auf das Forschungsinteresse – welche Bedeutung die Besonderheiten von Städten für das Handeln von ausgewählten Akteuren in der Mittelstadt haben – wurden die Forschungsergebnisse aus den beiden Fallstudien zueinander ins Verhältnis gesetzt. Dabei konnte gezeigt werden, dass sich der Vergleich von „top-down“-konstruierten Stadtlabels und der „bottom-up“-Perspektive der Zivilgesellschaft gut eignet, um sich den Besonderheiten von Mittelstädten zu nähern. Mit Blick auf die wahrgenommene Authentizität der offiziellen Labels und der Mitgestaltung der Stadt durch zivilgesellschaftliche Initiativen wurde deutlich, dass diese sich insbesondere dann gut in Verbindung miteinander setzen lassen, wenn die policybasierten Stadtlabels mit den Leitbildern der Mittelstädte korrespondieren und die öffentliche Darstellung der Stadt sich in den Erfahrungen der Bürger*innen wiederfindet. So verwiesen die Vereinsmitglieder einer Stadt, die sich für Digitalisierung einsetzt und dies auch in ihrem Label aufführt, auf die zahlreichen Möglichkeiten, mithilfe einer App digitale Angebote wie Hotelbuchungen, Gastronomie und Shopping-Angebote wahrzunehmen.

Stadtlabels sind also nicht nur Ausdruck symbolischer Selbstvergewisserung, sondern können zugleich Motor sozialer Aushandlungsprozesse werden. Sie prägen, wie Initiativen ihre Stadt erleben, sich beteiligen und Verantwortung übernehmen. Wir gehen davon aus, dass diese gesteigerte Authentizität sich ebenfalls positiv auf das Vertrauen in die Stadtverwaltung und die Verbindung der Bürger*innen mit ihrem Ort auswirkt und dadurch zu einer gesteigerten Lebensqualität führt.


Relevanz der Forschungsergebnisse

Mit Blick auf Fragen digitaler Transformation und digitaler Souveränität, die durch die DFG-Forschungsgruppe „digitale Mittelstadt der Zukunft (FOR 5393)“ in den Fokus gerückt werden, sind die Erkenntnisse der Fallstudien ebenfalls von Bedeutung. Wenn Beteiligung und Zugehörigkeit zunehmend über digitale Räume vermittelt werden, stellt sich die Herausforderung, wie diese Formen des Engagements in bestehende städtische Strukturen integriert werden können. Mittelstädte bieten hier ein wertvolles Experimentierfeld: Sie sind groß genug, um Wandel sichtbar zu machen, und klein genug, um ihn gemeinsam zu gestalten.

Mit Bezug auf Fragen sozialer Nachhaltigkeit sind die Forschungserkenntnisse ebenfalls von großer Bedeutung. Die Studien zum zivilgesellschaftlichen Engagement zeigen, dass Menschen sich vor allem dann für ihre Stadt einsetzen, wenn sie sich mit ihr verbunden fühlen und einen Beitrag zur Entwicklung ihrer Stadt leisten wollen. Gleichzeitig bilden Vereine und Initiativen soziale Begegnungsräume, in denen Menschen untereinander in den Austausch kommen, sich vernetzen und häufig auch für das Gemeinwohl einsetzen. Es ist wichtig, welche Geschichten wir über die Stadt erzählen und wohin sie sich entwickeln soll (BBSR 2024).


Referenzen

BBSR – Bundesinstitut für Stadt-, Bau- und Raumforschung (Hrsg.) (2024): Stadt erzählen – Stadt gestalten. Narrative Strategien und Methoden in der Stadtentwicklung, Bonn, Online verfügbar unter: https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/sonderveroeffentlichungen/2024/stadt-erzaehlen-stadt-gestalten-dl.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen am 20.10.2025).

BBSR – Bundesinstitut für Stadt-, Bau- und Raumforschung (Hrsg.) (2021): Stadt gemeinsam gestalten. Neue Modelle der Koproduktion im Quartier, Bonn, Online verfügbar unter: https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/SharedDocs/Publikationen/DE/Publikationen/stadtgemeinsamgestalten.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (abgerufen am 20.10.2025).

Blokland, Talja (2024): Gemeinschaft als urbane Praxis, Bielefeld: transcript.

Engagierte Stadt (Hrsg.) (2018): Grand Tour. Eine Reine zu Deutschlands engagierten Städten, Hamburg, Online verfügbar unter: https://www.bosch-stiftung.de/sites/default/files/publications/pdf/2018-09/Magazin%20Engagierte%20Stadt%20Grand%20Tour.pdf (abgerufen am 20.10.2025).

Förster, Agnes/ Kropp, Cordula/ Kuhlmann, Sabine/ Lohrberg, Frank/ Neuwirth, Christopher/ Polívka, Jan/ Reicher, Christa (Hrsg.) (2024): Transformation von Mittelstädten. Über neue Kulturen des Stadtmachens, Bielefeld: transcript.

Löw, Martina (2018): Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie, Bielefeld: transcript.

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung für globale Umweltfragen (2016): Der Umzug der Menschheit. Die transformative Kraft der Städte, Berlin: WBGU.

Willinger, Stefan (2022): Zazie, Lulu und Greta – Eigensinn macht Städte stark in: stadt:pilot 22 – Das Magazin zu den Pilotprojekten der Nationalen Stadtentwicklungspolitik, S. 22.

Zum Weiterlesen

Hoffmann, Jessica/ Rusche, Matthias (2024). Something Special?! An Analysis of Image Campaigns, City Identities and Specific Characteristics of Medium-Sized Cities in Germany. In: Robert Lastman (Hg.). Livable Cities – London, A Critique of Issues Affecting Life in Cities. London, 26.-28.06.2024. AMPS

Proceedings Series 39.1, 226-233. Online verfügbar unter: https://amps-research.com/wp-content/uploads/2025/03/Amps-Proceedings-Series_39.1.pdf (abgerufen am 22.09.2025).


Zur Autorin:

Jessica Hoffmann (M.A.) ist seit 2015 Mitglied im Arbeitskreis Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsforschung am Institut für Soziologie der Universität Münster. Sie forscht zu nachhaltiger und gemeinwohlorientierter Stadtentwicklung sowie zivilgesellschaftlichen Engagement mithilfe partizipativer Forschungsmethoden. Sie promoviert bei Prof. Dr. Matthias Grundmann (Soziologie) und Prof. Dr. Samuel Mössner (Nachhaltige Stadtplanung) zu Formierungsprozessen zivilgesellschaftlicher Stadtentwicklungsinitiativen. Aktuell ist sie in der DFG-Forschungsgruppe „digitale Mittelstadt der Zukunft“ tätig und dort für den Bereich der Zivilgesellschaft und sozialen Zusammenhalts zuständig.


[1] Gruppeninterviews bieten sich vor allem dann als Form der Interviewführung an, wenn unterschiedliche Perspektiven zu einem gemeinsamen Thema verhandelt werden sollen. Hierdurch werden sowohl verschiedene Perspektiven deutlich als auch die Interaktionen innerhalb der Gruppe. Für die Fallstudie wurden die Gruppeninterviews mit verschiedenen mind. 3 Teilnehmenden desselben Vereins durchgeführt. Weiterführend hierzu, siehe Misoch, Sabina (2019): „5. Qualitative Gruppeninterviewverfahren“. Qualitative Interviews, Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, S. 137-168. https://doi.org/10.1515/9783110545982-005