Egal ob Kleidung aus Bangladesch, Handys aus China, Avocados aus Peru oder Kaffee aus Kolumbien. Wir kleiden und konsumieren Produkte aus der ganzen Welt. Immer häufiger wird dabei auch über die Schattenseiten dieses globalisierten Konsums geredet, etwa wenn es um Arbeitsbedingungen der Textilherstellung in Bangladesch geht. Die grundsätzliche Vernetzung und Logistik hinter diesen Produkten, die bedingt, dass sie überhaupt in Deutschland in die Regale gelangen, bleibt dabei oft unbeachtet. Die made in china – Prägungen sind uns nur allzu bekannt. Wir wissen ebenso gut, dass Mangos nicht in Deutschland wachsen. Trotzdem füllen diese Produkte so selbstverständlich die Supermarktregale Westeuropas, als kämen sie vom Kleinbauern um die Ecke.
So wie der Transport der Produkte unbeachtet bleibt, ist auch das Schicksal der Schiffe, die die Produkte transportieren, weitgehend unbekannt. Dabei stellt die Verschrottungsindustrie ausgedienter Schiffe, die sogenannte ‚Ship Breaking‘ Industrie, in bestimmten Ländern des globalen Südens einen eigenen Wirtschaftszweig dar. Dessen Bedeutung lässt sich daran erkennen, dass etwa Bangladesch bis zu 80% seines jährlichen Stahlbedarfs durch das Altmetall der riesigen Schiffe deckt.
Ursache hierfür ist die quantitative Explosion des globalen Seehandels nach dem Zweiten Weltkrieg. Schnell wächst eine Industrie zur Zerlegung der ausgedienten Schiffe heran, die nach den 1960ern immer weiter in günstigere Länder abwandert. Der sorglose Umgang mit den gefährlichen Stoffen der Schiffe macht aber auch neue Regulierungen nötig: Schwermetalle aus Farben und Dichtungsmitteln, Ölrückstände in Tankern, oder das jahrelang naiv und euphorische verarbeitete Asbest machen die Schiffe auch am Ende ihres Lebens zu einer Herausforderung und großen Gefahr für Umwelt, Menschen und (Meeres-)Tiere. Im Jahr 1997 wurde aus diesen Gründen der Export von gefährlichem Müll aus den offiziell verboten. Aufgrund des in Schiffen verbauten Asbests und anderer giftiger Stoffe fallen auch diese unter das Verbot. Die in Europa ansässigen Reedereien sollen dementsprechend die Schiffe sachgerecht in dafür vorhergesehenen Abwrackwerften entsorgen.
Doch die Regeln entfalten auch mehrere Jahrzehnte nach Inkrafttreten noch keine Wirkung. Ungeachtet der Appelle und Regelungen der EU oder der OECD-Staaten werden so noch heute mehr als 70% der europäischen Schiffe in den drei größten Strandwerften in Bangladesch, Indien oder Pakistan zerlegt.
Fahren unter fremder Flagge
Möglich wird dies erst durch die Umgehung bestehender Standards. Staaten profitieren von der Industrie und beeinflussen Regelungen deshalb zu ihren Gunsten, ein Netzwerk aus Zwischenhändlern ignoriert diese oder nutzt Schlupflöcher aus. Eine Verbesserung der Situation wird dadurch verhindert. Entscheidend ist dabei, wie Abfall definiert und verstanden wird. Ab wann ist ein Schiff schrottreif und wann noch seetauglicher Frachter? Der Zeitpunkt, in dem ein Schiff zu Schrott wird, wird so zu einer Frage der Definitionshoheit – und zu einer ökonomischen. Ob ein Schiff noch oder nicht mehr rentabel ist, was in der Regel nach 20-30 Jahren der Fall ist, liegt im Ermessen des Unternehmens. Dieses wird so zum Regelungshindernis. Denn erst wenn ein Schiff als Abfall deklariert wird, fällt es z.B. unter das Ausfuhrverbot gefährlichen Mülls. Wird ein Frachter als funktionsfähiges Schiff ausgeführt, ist eine Verschrottung im OECD-Ausland ohne Probleme möglich – und deren sozialen und ökologischen Kosten werden so gleich mitexportiert.
Eine zentrale Umgehungsmethode der rechtlichen Regelungen ist die sogenannte Umflaggung: Indem die tatsächlichen Eigentümer, etwa europäische Reedereien, das Schiff unter fremder (Nicht-EU) Flagge fahren lassen, werden die Regelungen, die sonst für die europäischen Betreiber gelten, effektiv umgangen. Solche „Billigflaggen“ werden häufig von karibischen Inselstaaten, wie St. Kitts und Nevis verkauft. Die Reedereien ersparen sich so die Kosten einer teuren, regelgerechten Verschrottung, belohnen die Flaggenstaaten mit Steuern und umgehen die Regelungen zum Ship-Breaking.
Die Folgen sind ernüchternd. Das Umflaggen eines Schiffes auf ein Land außerhalb des Geltungsbereichs von EU-Recht ist zu einer weit verbreiteten Praktik geworden, so dass bereits 2007 etwa die Hälfte der Schiffe im Besitz von europäischen Reedern unter einer außereuropäischen Flagge in See stachen.
Einen Wandel konnten auch EU-Verordnungen nicht einleiten: Von den 328 (bekannten) europäischen Schiffen, die im Jahr 2016 verschrottet wurden, wurden 274 auf südasiatische Strände gelenkt. Dank der Umflaggung leider völlig legal. Der Ohnmacht der EU und anderer Initiativen steht der Aktivismus der globalen Reedereien gegenüber. In den Ländern mit Abwrackwerften hat sich auf diesem Weg eine große Industrie entwickelt, die sich auf Arbeitsplätze und den Stahl der Schiffe verlässt.
Gefährliche Strände
Sind die ausgedienten Schiffe erstmal dort angekommen, folgt das Beaching. Dabei werden die Schiffe auf natürliche Strände gefahren und anschließend zerlegt.
Dort häufen sich die riesigen Stahlteile, die früher einmal als Megafrachter unsere Kiwis und Klamotten um die Welt fuhren. Ein Schiff zu zerlegen ist Knochenarbeit. In Handarbeit werden die Frachter aufgeschweißt und in Kleinteile zerlegt. Regelmäßig kommt es dabei zu schweren lebensgefährlichen Unfällen und Explosionen. Nicht entfernte Ölreste können sich entzünden, so etwa 2015 in Pakistan, bei dem bisher größten Unglück der Branche. Nicht selten stürzen Arbeiterinnen und Arbeiter von den ungesicherten Schiffswracks oder werden durch herunterfallende Teile erschlagen.
So ist es keine Überraschung, dass eine große Mehrheit der Werftangestellten über Sehprobleme und Verletzungen in Folge ihrer Arbeit klagt. Zu diesen gehören größtenteils unterbezahlte junge Männer aus dem armen Norden Bangladeschs, auch Kinder und Jugendliche arbeiten auf den Werften. Für diese Menschen bietet sich keine Alternative zu dieser Arbeit.
Auch die Umwelt in der Nähe der Strandwerften wird nachhaltig beschädigt. Um die Werften zu vergrößern, werden häufig Mangrovenwälder abgeholzt, um den Strand für Schiffsskelette freizugeben. Auch die giftigen Stoffe der Schiffe, die ungehindert im Sand versickern, zerstören die Artenvielfalt vor Ort. Die Verschmutzung ist sogar auf Satellitenbildern sichtbar. So ziehen sich in Chittagong, der größten Abwrackwerft Bangladeschs, kilometerweit Ölspuren in den bengalischen Golf, deren Auswirkungen auf das Meer sich nur erahnen lassen.
Die Betreiber der Schiffe profitieren von den niedrigen Entsorgungskosten, während die Beschäftigten und die Umwelt im globalen Süden die negativen Folgen zu tragen haben. Gleichzeitig ist der volkswirtschaftliche Nutzen der Verschrottung nicht zu verschweigen. Bangladesch ist zu großen Teilen von dem Stahl, der durch das Abwracken “gewonnen” wird, abhängig. Der alte Stahl wird für den Bau von Brücken und Gebäuden verwendet. Dass 95% eines Schiffes dadurch recycelt werden, impliziert andererseits einen “grünen Kreislauf”: Möbel und altes Öl werden abgepumpt, ausgebaut und weiterverkauft. Doch die Nebeneffekte für Umwelt und Bevölkerung wiegen schwer.
Die Kosten und Nutzen sind ungleich verteilt. Ölspuren und Asbeststaub erreichen Europas Strände nicht. Und solange das so bleibt, bleibt auch das Interesse für eine gerechtere Lösung aus. Den Preis für das „westliche“ Konsummodell, das auf grenzenloser Verfügbarkeit beruht, zahlen die Länder des globalen Südens, die keine wirkliche Wahl haben, ob sie an diesem Handel teilhaben wollen oder nicht.
Autoren: Lennard Jakobi und Niklas Steinke studieren an der Westfälischen-Wilhelms-Universität Münster und haben im Rahmen des Kurses „Globale Dimensionen der Waste Governance“ von ZIN-Mitarbeiter Tobias Gumbert zu den globalen Dimensionen der Entsorgung von Frachtschiffen geforscht.
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