Carolin Bohn, Tobias Gumbert
Die COVID-19-Pandemie hat dazu geführt, dass Gesellschaften, die sich als „liberal“ begreifen – Freiheit also als Grundwert verstehen – hitzig diskutieren: Wie weit darf die so wertvolle Freiheit einzelner Menschen eingeschränkt werden, um andere Gesellschaftsmitglieder zu schützen? Bis zu welchem Grad sind solche Einschränkungen gerechtfertigt? Welche Einschränkungen verlangen uns zwar viel ab, aber nicht zu viel? Und wer entscheidet das? Diese Fragen sind nicht eindeutig zu beantworten. In Konfliktfällen müssen wir darum häufig zwischen unterschiedlichen Dingen (bspw. Freiheit und dem Schutz der Gesundheit) gemeinsam diskutieren und abwägen, um dann zu entscheiden, was gerade wichtiger ist. Aktuell scheint es so, als ob nicht alle Bürgerinnen und Bürger, aber große Teile der Bevölkerung den Schutz der Gesundheit als so wichtig ansehen, dass sie Einschränkungen bestimmter Freiheiten für eine gewisse Dauer akzeptieren. Kritische Reaktionen auf unzureichend begründete Einschränkungen oder Verunsicherung aufgrund unterschiedlicher Vorgehensweisen einzelner Bundesländer zeigen aber auch: Die Akzeptanz für Freiheitseinschränkungen ist keineswegs unbegrenzt. Aus diesen Debatten und Konflikten über Freiheitseinschränkungen im Kontext der Pandemie kann und sollte man aus unserer Sicht viel für die Ausgestaltung demokratischer Nachhaltigkeitspolitik lernen.
Umweltschutz ja, aber bitte ohne Verbote?
Wenn es um Umweltfragen geht, scheint es oft sehr wenig Akzeptanz für Verbote, Freiheiteinschränkungen und Regulierungen zu geben. Als beispielsweise die Deutsche Umwelthilfe Ende 2018 ein Tempolimit auf Autobahnen forderte, ließ Kritik nicht lange auf sich warten. Weniger Emissionen, so erklärte bspw. Bundesverkehrsminister Scheuer, sollten „mit mehr Förderung, mit mehr Anreiz und nicht mit Einschränkungen und auch nicht mit Verboten“ (FAZ, 19.12. 2018) erreicht werden. Ähnlich ablehnende Haltungen gegenüber Grenzsetzungen prägen die öffentliche Diskussion um andere Nachhaltigkeits-Themen, sei es der Plastiktütenverbrauch, der Fleischkonsum oder das Silvesterfeuerwerk. Die Tatsache, dass wir überhaupt über Einschränkungen in diesen Bereichen diskutieren, zeigt: Es scheint tatsächlich ein gesteigertes Bewusstsein dafür zu geben, dass die Welt nicht unendlich viele Rohstoffe für menschlichen Konsum bereithält und nicht unendlich viel Müll, Treibhausgase oder andere Schadstoffe aufnehmen kann, ohne dass es fatale Folgen für das menschliche (Über-)Leben gibt. Obwohl menschliche Gesellschaften hier also ganz offensichtlich an Umweltgrenzen stoßen, werden Ideen zu Begrenzungen des Konsumverhaltens oder der Lebensweise in öffentlichen Diskussionen oft negativ wahrgenommen und es wird vor einer Bevormundung der BürgerInnen gewarnt. Hin und wieder wird dann gern auch auf das Selbstverständnis als „liberale“ Gesellschaft verwiesen, in der Freiheit als Grundwert nicht angetastet werden sollte. Doch müssen wir wirklich davon ausgehen, dass in einer liberalen Gesellschaft die Freiheit der einzelnen BürgerInnen und der Schutz des Klimas und der Umwelt in einem Spannungsverhältnis stehen?
Nun sag, Liberalismus, wie hast du’s mit der Grenzsetzung?
Wenn wir über diese Frage nachdenken, ist ein kurzer Ausflug in die liberale Ideengeschichte sehr aufschlussreich. Denn dieser zeigt uns, dass individuelle Freiheit und Begrenzungen von Freiheit (bspw. zum Schutz ökologischer Systeme) für viele liberale DenkerInnen keineswegs unvereinbar sind. Das Recht auf umfassende individuelle Freiheit bildet für ihre Ideen zwar den gedanklichen Ausgangspunkt. Gleichzeitig stimmen sie jedoch darin überein, dass individuelle Freiheit Grenzen haben muss und dass diese Grenzen durch den Staat gesetzt werden dürfen, wenn bspw. das Ausleben einer individuellen Freiheit durch einen Bürger einer Mitbürgerin schadet. Wie wir bereits erwähnt haben, ist es aber häufig schwierig zu entscheiden, wo genau der individuellen Freiheit Grenzen gesetzt werden dürfen. Für viele liberale DenkerInnen ist es in diesem Zusammenhang besonders wichtig, dass die BürgerInnen eines Staates diese Entscheidung gemeinsam ausdiskutieren und dabei sorgfältig überlegen, wo Freiheiten eingeschränkt werden dürfen, um ein als besonders wichtig erachtetes Gut (z.B. den Schutz der Gesundheit) zu schützen. Das ist der springende Punkt: Begrenzungen von Freiheit müssen in liberalen Gesellschaften bzw. Demokratien öffentlich gerechtfertigt werden, sie sind aber kein grundsätzliches Tabuthema. Im Gegenteil: Wenn bspw. umweltschädliches Verhalten vielen BürgerInnen schadet, dann sollte ein liberaler Staat sogar gemeinsam mit der Bevölkerung entscheiden, wie diesem Verhalten Grenzen gesetzt werden können.
Freiheit ist nicht gleich Freiheit
Hier müssen wir BürgerInnen also unseren Teil beitragen und auch im Kontext Nachhaltigkeit immer wieder gemeinsam abwägen: Wie wichtig sind uns bestimmte individuelle Freiheiten (z.B. mit Blick auf Reisen oder Konsum) im Verhältnis zum Schutz ökologischer Güter (z.B. Artenvielfalt, saubere Gewässer)? Diese Abwägung kann dazu führen, dass wir uns bewusst dafür entscheiden, einige Freiheiten (z.B. das Einkaufen mit Plastiktüten oder die Nutzung nicht-wiederverwertbarer Verpackungen) einzuschränken, um andere, als wichtiger empfundene Güter oder Handlungsmöglichkeiten (bspw. sauberere Gewässer oder das Spazieren durch einen weniger vermüllten Wald) überhaupt zu haben. Häufig werden in diesem Zusammenhang Lösungen bevorzugt, die scheinbar beides gleichzeitig ermöglichen, zum Beispiel dann, wenn neue „nachhaltige“ Verpackungen angepriesen werden um scheinbar sämtliche Probleme zu beheben, die durch nicht-wiederverwertbare Packungen entstehen, gleichzeitig aber alle Vorteile dieser „herkömmlichen“ Verpackungen bieten. Im Sinne eines liberalen Freiheitsverständnisses, das Grenzen nicht von vornherein ablehnt, gilt es hingegen die Vor- und Nachteile und den Wert aller Handlungsmöglichkeiten (und damit auch die Schwachstellen der Nutzung angeblich „nachhaltiger“ Verpackungen) transparent offenzulegen um dann gemeinsam abzuwägen, welche Handlungsmöglichkeiten wir unbedingt offenhalten möchten und auf welche wir verzichten können. Wenn wir uns darüber einig sind, dann fällt es wesentlich leichter darüber zu entscheiden, welche Freiheiten wir bewusst einschränken möchten, um diese besonders wertvollen Handlungsoptionen zu schützen. Wenn der Staat dann diese gemeinsam beschlossenen Grenzen zum Schutze des Klimas durchsetzt, ist das kein Problem für liberale Gesellschaften, sondern vielmehr die Aufgabe des Staates sowie Bedingung für den Schutz des Grundwerts „Freiheit“.
Was heißt das für die demokratische Nachhaltigkeitspolitik?
Um Freiheit auch im Rahmen demokratischer Nachhaltigkeitspolitik als etwas zu begreifen und zu leben, dass sich im Rahmen gemeinsamer Diskussionen über besonders wertvolle Handlungsoptionen zeigt, braucht es bestimmte Voraussetzungen, die wir hier leider nur anreißen können. Zentral ist zum Beispiel, nicht weiter wie bisher „Win-Win-Situationen“ zu versprechen und so zu tun, als könnten wir unseren Lebensstil weitestgehend beibehalten und trotzdem erfolgreich Umweltschutz betreiben. Dieses Versprechen hat sich bisher nicht bewahrheitet. Wenn die Möglichkeit einer solchen „Win-Win-Situation“ aber weiter behauptet wird, dann ist BürgerInnen nur schwer zu vermitteln, warum sie zum Schutz besonders wertvoller Freiheiten gemeinsam Abwägungen zwischen unterschiedlichen Handlungsoptionen treffen sollen. Um solche Abwägungen gemeinsam zu treffen, braucht es außerdem die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu den Wert einer Handlungsoption zu reflektieren und darüber mit anderen ins Gespräch zu kommen. Das müssen wir in liberalen Gesellschaften wieder stärker üben und praktizieren, anstatt Freiheitsbeschränkungen von vornherein als „illiberal“ abzutun.
Zu den AutorInnen:
Carolin Bohn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt BIOCIVIS und am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung. Sie setzt sich mit verschiedenen Fragen aus dem Themenfeld „Demokratie und Nachhaltigkeit“ auseinander und interessiert sich dabei besonders für Aspekte wie Bürger*innenbeteiligung und politische Urteilsfähigkeit.
Tobias Gumbert ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung und am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung. Er forscht u.a. zu den Themen Nachhaltiger Konsum, Nahrungs- und Abfallpolitik sowie Demokratie und Nachhaltigkeit.
Zum Weiterlesen:
Die Autor*innen diskutieren das Verhältnis demokratischer Nachhaltigkeitspolitik und (liberaler) Freiheit u.a. auch in diesem Tagungsbandbeitrag: Bohn Carolin, Gumbert Tobias. 2020. „“Grüne liberale Freiheit“ als Baustein einer sozialökologischen Ethik der Grenzen.“ In Grenzgänge der Ethik, herausgegeben von Becker Josef, Kistler Sebastian, Niehoff Max, 131-148. Münster: Aschendorff.
Bildquelle: Pixabay
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