„Reallabore – ExperimentierRäume für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft“[1] …auch im Münsterland


Daniela Pastoors

Wie gestaltet man einen Innovation Hub zu sozial-ökologischer Nachhaltigkeit? Was macht überhaupt einen ‚Innovation Hub‘ aus? Wenn darin ‚Teaching Innovation Labs‘ und ‚Living Labs‘ stattfinden sollen, wie unterscheidet er sich von der Idee eines Reallabors? Und wie gehen wir das für die Region Münster an?

Mit diesen Fragen im Gepäck startete ich Anfang April am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) und habe die Aufgabe übernommen den Innovation Hub zu sozial-ökologischer Nachhaltigkeit in der Region des Münsterlandes mitaufzubauen, mit dem die Universität Münster sich im Rahmen der Europäischen Hochschulallianz ULYSSEUS einbringt.[2]

Eine Woche nach meinem Start in Münster hatte ich die Gelegenheit die Fragen in ein Netzwerk hineinzutragen, das Menschen zusammenbringt, die sich mit Partizipationsformaten, Transformationsprozessen, Reallaboren und transdisziplinärer Forschung intensiv auseinandersetzen.

Konferenz des Netzwerks „Reallabore der Nachhaltigkeit“

Das Netzwerk „Reallabore der Nachhaltigkeit“ hat sich 2019 gegründet und dieses Jahr im April seine zweite wissenschaftliche Konferenz durchgeführt. Fast 300 Personen trafen sich in Dresden und tauchten tief in die Welt der Reallabore als „ExperimentierRäume für den Weg in eine nachhaltige Gesellschaft“ ein (wie der Titel der Konferenz bereits erwarten ließ).

Als gemeinsamer Referenzrahmen zum Verständnis vom Gegenstand „Reallabor“ kann die folgende Definition dienen:

„Ein Reallabor bezeichnet eine transdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungseinrichtung, die dazu dient, in einem räumlich abgegrenzten gesellschaftlichen Kontext Nachhaltigkeitsexperimente durchzuführen, Transformationsprozesse anzustoßen und wissenschaftliche wie gesellschaftliche Lernprozesse zu verstetigen“ (Parodi et al. 2016).

Das Organisationsteam war von der Fülle und Qualität der Einreichungen im Vorfeld überwältigt worden (168 Beiträge, davon 65 Artikel, 38 Speed Talks, 34 Dialoge/Workshops und 31 Poster) und hatte die herausfordernde Aufgabe, möglichst viele der Beiträge zu einem ansprechenden Programm zusammenzuweben. Dies ist ihnen definitiv gelungen und die neun Themenstränge zogen sich in unterschiedlichen Formaten in neun parallelen Sessions durch das Programm.

Einblick ins Programm

So gab es Themenstränge, die sich theoretisch und methodisch mit Reallaboren als Forschungsansatz auseinandergesetzt haben – „Reallabore als transdisziplinäres Forschungsformat“, zu „Wirkungsmessung von und in Reallaboren“ – und auch solche, die die Themen oder Kontexte der Reallabore in den Mittelpunkt stellten – wie „Urbane Realexperimente für nachhaltige Konsumkulturen“, „Reallabore in ländlichen Räume“ bzw. „in marinen Räumen“. Zudem wurde die Bedeutung von Reallaboren „als politisch-regulative Testräume“ diskutiert und mit „Lernen, Reflexion und innere Kultur der Nachhaltigkeit“ ihr Bildungsaspekt beleuchtet. Für mich als Friedens- und Konfliktforscherin bot der Themenstrang „Reallabore und Experimente als Konflikträume“ viele spannende Einblicke, dem sich die Konferenz erstmalig widmete.

Aus Münster und dem ZIN waren gleich mehrere Reallaborforschungsprojekte vertreten. Im Beitrag „Experimentelle Planung als Konfliktraum?! Über Aushandlungsprozesse in der Entwicklung modellhafter Stadtquartiere in Münster“ gaben Jana Weber und Samuel Mössner Einblicke in die Dissertationsforschung von Jana Weber und zeigten eine empirische und kritische Perspektive auf die partizipativen Prozesse und Beteiligungsformate in der Modellquartiersentwicklung auf. Zudem stellte Jakob Kreß in seinem Beitrag „Ein ‚Künstlerdorf‘ im Wandel: Zur Konzeption eines Reallabors“  seine Erkenntnisse vor, die er während seiner soziologischen Forschungsarbeit zum Künstlerdorf Schöppingen entwickelt hatte. Auch die ZIN-Projekte SUNRISE und LATERNE waren mit Postern vertreten.

Das Rahmenprogramm mit einer Keynote von Uwe Schneidewind zu „Reallabore in Aktion – Zwischenstand und Perspektiven“ und das Werkstattgespräch zu Perspektiven der Reallaborforschung (mit Regina Rhodius, Kai Hielscher, Oliver Parodi, Christiane Rost und Norbert Rost) sorgten für die Einordnung in den größeren Kontext und Einblicke in die wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen von Reallaboren als Teil von Transformationsforschung und -politik.

Insgesamt bot die Konferenz nicht nur spannende Einblicke in aktuelle Forschung und Praxis, sondern ermöglichte vielen Neulingen eine systematische Orientierung. So wurde im Vorfeld der Konferenz der Film „ZUSAMMEN Zukunft gestalten“ vom Transitionkino gezeigt, der die Reallaborentwicklungen der letzten Jahre dokumentiert und einige Protagonist*innen und Beispielprojekte vorstellt.

Grundlegendes Verständnis von Reallaboren und Living Labs

Zudem boten einige Kolleg*innen des Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel (KAT) direkt zu Beginn einen Einführungsworkshop an und konnten dabei sowohl aus den Erfahrungen aus dem 2012 gestarteten Reallabors „Quartier Zukunft“ in Karlsruhe berichten als auch eine theoretische Einordnung vornehmen.

Für viele Teilnehmende fungierten die im Einführungsworkshop vorgestellten (und in der obigen Abbildung ersichtlichen) neun konstitutiven Charakteristika von Reallaboren als Orientierungshilfe, um die eigenen Projekte daraufhin zu überprüfen, welches Verständnis ihnen zu Grunde liegt. So wird häufig nicht eindeutig zwischen den Rahmenbildenden Reallaboren und den darin stattfindenden, konkreteren Realexperimenten unterschieden (Parodi & Steglich 2021). Zudem sind Reallabore (engl. ‚real-world labs‘) im deutschsprachigen Kontext aus der transformativen Nachhaltigkeitsforschung entstanden und unterscheiden sich konzeptionell von Living Labs durch ihre klare Bezugnahme auf das Leitbild der Nachhaltigen Entwicklung (Beecroft et al. 2018). Unter dem englischen Begriff Living Labs können sich eine Vielzahl von verschiedenen Verständnissen und praktischen Umsetzungen verstecken. Im Vergleich mit den neun Charakteristika der Reallabore wird deutlich, dass sie einige Schnittmengen haben, Living Labs aber häufig auch ohne eine normative Ausrichtung (auf Nachhaltigkeit), ohne einen dezidiert transdisziplinären Ansatz, ohne zivilgesellschaftliche Einbindung, ohne den Bildungsfokus und ohne eine langfristige Perspektive auskommen (so berichteten Parodi et al. 2024 im Einstiegsworkshop).

Bedeutung für die Reallaborarbeit im Innovation Hub zu sozial-ökologische Nachhaltigkeit im Münsterland

Für uns im Innovation Hub Team in ULYSSEUS Münster ist bereits deutlich geworden, dass innerhalb der verschiedenen europäischen Hochschulen im ULYSSEUS-Netzwerk und auch in den Ausschreibungen und Richtlinien der Europäischen Kommission unterschiedliche Verständnisse von Living Labs vorhanden sind. Zugleich ist Münster mit dem Fokus auf sozial-ökologische Nachhaltigkeit Teil dieser Hochschulallianz geworden und wird diesen Themenkomplex im Rahmen des Innovation Hub angehen. Daher ist klar, dass für uns das an nachhaltiger Entwicklung ausgerichtete Verständnis von Reallaboren bedeutsam ist.  Der Innovation Hub fungiert dabei als rahmendes Labor, in dem verschiedene Projekte und Aktivitäten stattfinden werden. Zudem ist eine Besonderheit der Europäischen Hochschulallianzen, dass sie auf die langfristige Etablierung von gemeinsamen Strukturen und Prozessen und die Entwicklung eines europäischen Campus abzielen. Gerade das Kriterium der Langfristigkeit ist im Zuge von Projektfinanzierungen häufig schwer umzusetzen, sodass wir froh über diese besondere Konstellation sind.

Die Konferenz hat in jedem Fall eine wunderbare Gelegenheit gegeben, diverse Akteur*innen aus dem Feld der Reallaborarbeit (im deutschsprachigen Raum) kennenzulernen, sich über viele verschiedene Facetten und Aspekte dieser Arbeit auszutauschen und die eigenen Vorhaben zu reflektieren. Gerade weil die Konzeption unseres Innovation Hubs zu sozial-ökologischer Nachhaltigkeit im Münsterland noch am Anfang steht, gibt es nun jede Menge Inspirationen zum Weiterdenken und wir freuen uns im Team, im ZIN und in erweiterten ULYSSEUS-Kreisen weiter daran zu arbeiten und den Innovation Hub Stück für Stück entstehen und wachsen zu lassen.[3]


[1]    So lautete der Titel der Konferenz des Netzwerks „Reallabore der Nachhaltigkeit“ 2024: https://ioer.de/veranstaltungen/rlnk2024#c8045

[2]    Münster ist seit Ende 2023 Teil von ULYSSEUS und für das ZIN und den Innovation Hub sind Prof. Dr. Doris Fuchs,Prof. Dr. Tillmann Buttschardt, Dr. Cornelia Steinhäuser, Dr. Tobias Gumbert, und ich das Kernteam, unterstützt von Luisa König und Dario Pösse.

[3]    Wer Interesse daran hat, hierzu auf dem Laufenden gehalten oder involviert zu werden, melde sich sehr gerne bei der Autorin.

Literatur

Beecroft, Richard/ Trenks, Helena / Rhodius, Regina / Benighaus, Christina / Parodi, Oliver (2018). Reallabore als Rahmen transformativer und transdisziplinärer Forschung: Ziele und Designprinzipien. In: Rico Defila und Antonietta Di Gulio (Hg.). Transdisziplinär und transformativ forschen. Eine Methodensammlung. Wiesbaden: Springer VS., 75-100. . https://doi.org/10.1007/978-3-658-21530-9_4.

Parodi, Oliver / Steglich, Anja (2021). Reallabor. In: Schmohl, Tobias [Hrsg.]; Philipp, Thorsten [Hrsg.]; Schabert, Johanna [Mitarb.]: Handbuch Transdisziplinäre Didaktik. Bielefeld : transcript, 255-265. https://doi.org/10.25656/01:27663; https://doi.org/10.14361/9783839455654-02.

Parodi, Oliver /Beecroft, Richard / Albiez, Marius / Quint, Alexander (2016). Von »Aktionsforschung« bis »Zielkonflikte« – Schlüsselbegriffe der Reallaborforschung. TATuP 25(3): 9-18. https://doi.org/10.5445/IR/1000069530.

Quartier Zukunft 2019: Comic: Was ist ein Reallabor?. Ein Comic von Quartier Zukunft, Energietransformation im Dialog und dem Karlsruher Transformationszentrum. Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren, 1. Auflage (September), Karlsruhe.


Autor*innenbeschreibung

Dr. Daniela Pastoors ist Teil des ZIN-ULYSSEUS-Teams an der Universität Münster und hat darin die Aufgabe, den Innovation Hub zu sozial-ökologischer Nachhaltigkeit in der Region des Münsterlandes aufzubauen und umzusetzen.

Daniela Pastoors forscht und lehrt an der Schnittstelle von Konflikttransformation, Friedensbildung und sozial-ökologischer Transformation, hat in Marburg Friedens- und Konfliktforschung studiert und zur Frage promoviert, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden.