Bürger*in-Sein in Zeiten der Klimakrise – was bedeutet das?

Carolin Bohn

Wissenschaftler*innen diskutieren kontrovers darüber, ob und inwiefern wir unser Verständnis davon, was es bedeutet ein*e Bürger*in zu sein, vor dem Hintergrund der Klimakrise verändern sollten. Welche Verantwortung tragen Bürger*innen in Zeiten der Klimakrise? Haben sie (neue) Rechte und Pflichten? Welche? Dieser Blogbeitrag führt in die Debatte um diese Fragen ein und möchte zum weiteren Nachdenken anregen.

Bürger*innenschaft – Ein facettenreicher Begriff

„Bürger*in“ – was genau meint dieser Begriff eigentlich? Schlagen wir dieses Wort im (virtuellen) Duden nach, so werden hier zwei Bedeutungen angegeben: „Angehöriger eines Staates“ und „Einwohner einer Gemeinde“. Das klingt erstmal recht einfach. Bürger*in-Sein scheint etwas damit zu tun zu haben, wo ich wohne. Oder? Tatsächlich ist das nicht falsch, zumindest mit Blick auf die soeben genannten Bedeutungen. Sie verraten uns aber noch mehr über den Begriff „Bürger*innenschaft“, nämlich: als Bürger*in bin ich immer Teil einer Gemeinschaft, beispielsweise der Staatsbevölkerung oder der Stadtgesellschaft.

Was versteckt sich außerdem hinter dem Begriff Bürger*innenschaft? Was macht die Bürger*innen-Rolle aus? Wer sich in politikwissenschaftlichen Werken auf die Suche nach einer Antwort auf diese Fragen begibt, würde tatsächlich gleich mehrere finden: Bürger*in-Sein bedeutet, Rechte und Pflichten zu haben. Es bedeutet – dieser Meinung sind zumindest viele Politikwissenschaftler*innen – bestimmte Tugenden aufzuweisen (ganz einfach gesprochen können darunter positiv bewertete, beständige Charaktereigenschaften verstanden werden). Es bedeutet außerdem, sich an der Gestaltung des gemeinsamen Lebens in einer Gemeinschaft, sei es in einem Staat oder einer Stadt, zu beteiligen. Bürger*in-Sein bedeutet damit einhergehend auch, sowohl Verantwortung zu tragen als auch gleichzeitig über bestimmte Freiheiten zu verfügen.

Aber: Wofür genau bin ich als Bürger*in verantwortlich? Und wie groß ist meine Verantwortung? Was genau sind die Rechte, und welche Pflichten muss ich erfüllen? Wie intensiv sollte ich mich beteiligen? Reicht es, wenn ich regelmäßig wählen gehe oder sollte ich auch an Demonstrationen teilnehmen, Petitionen unterschreiben und ähnliches? Und für welche Gemeinschaft sollte ich mich nun engagieren – die Mitbürger*innen in meiner Kommune, oder doch alle meine Landsleute? Welche Freiheiten habe ich, und wo enden sie?

Diese Fragen verweisen darauf, dass die unterschiedlichen Merkmale von Bürger*innenschaft (Rechte und Pflichten,…) im Detail auf ganz verschiedene Arten gefüllt werden können. Die Vorstellung davon, was Bürger*innenschaft ausmacht und wer eigentlich als „gute*r Bürger*in“ gilt, ist immer auch von den zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen geprägt. Das heißt: Würden wir die soeben aufgeführten Fragen an einen Einwohner des antiken Athens richten sowie an Münsteraner*innen von heute, so würden wir völlig unterschiedliche Antworten auf sie erhalten. Hier zeigt sich, dass sich das Verständnis von Bürger*innenschaft mit seinen (historischen, wirtschaftlichen, kulturellen,…) Rahmenbedingungen wandelt.

Das hier und heute, zumindest in unserer westlichen Gesellschaft vorherrschende Verständnis von Bürger*innenschaft wird in der Politikwissenschaft meist als durch den Liberalismus geprägt betrachtet. Was heißt das genau? Es bedeutet, dass Freiheit als wichtiges Gut betrachtet wird und Rechte daher vor allem im Sinne von Freiheitsrechten relevant sind. Insbesondere die Privatsphäre wird als schützenswert betrachtet, und staatliche Eingriffe in diesen Bereich sollten möglichst vermieden, oder – wenn sie unvermeidbar sind – zumindest sehr gut begründet werden. Bürger*innenpflichten und -tugenden spielen im Liberalismus zwar auch eine Rolle, jedoch eine weit weniger große als Freiheit und Rechte.

Das liberal geprägte Verständnis von Bürger*innenschaft, das hier natürlich nur in seinen Grundzügen dargestellt werden kann und tatsächlich sehr vielfältig ist, ist wie jedes Verständnis von Bürger*innenschaft geprägt durch seine (u.a.) geschichtlichen Rahmenbedingungen. Schreitet die Geschichte voran, so ist also damit zu rechnen, dass auch unsere Idee davon, was Bürger*in-Sein bedeutet, sich verändert.

Es braucht ein neues Verständnis von Bürger*innenschaft!

Unsere Zeit ist dadurch geprägt, dass die Auswirkungen der Klimakrise weltweit immer deutlicher werden (bspw. in Form der Zunahme an Starkregenereignissen oder Dürreperioden), sodass der Kampf gegen diese Krise ein immer wichtigeres Thema wird. In den vergangenen Jahrzehnten ist in der Wissenschaft eine Diskussion darüber entbrannt, ob wir vor dem Hintergrund dieser Phänomene nicht auch anders über Bürger*innen-Sein nachdenken müssten. Im Kern dieser Diskussion steht die Ansicht einiger Wissenschaftler*innen, dass das bereits beschriebene liberal geprägte Verständnis von Bürger*innenschaft in vielerlei Hinsicht nicht mehr gut in eine Zeit zu passen scheint, die durch die Klimakrise geprägt ist. Das klingt zunächst vielleicht recht abstrakt, daher nenne ich hier einige Beispiele: Umweltprobleme, die durch den Klimawandel verursacht werden, sind grenzüberschreitend, „Verursacher*innen“ und Betroffene leben oft in verschiedenen Staaten. Aktuell wird Bürger*innenschaft aber vorrangig als Staatsbürger*innenschaft gedacht und endet damit – anders als Umweltprobleme – an Landesgrenzen.

Im Zuge der Klimakrise wird deutlich, dass die unbegrenzte Ausbeutung der Natur und die ungebremste Verschmutzung der Umwelt durch einige Menschen vielen anderen Menschen schaden. Das liberal geprägte Bürger*innenschaftsverständnis jedoch stellt möglichst große Freiheitsrechte einzelner Personen in den Mittelpunkt.

Viele Wissenschaftler*innen (darunter bspw. John Barry und Sherilyn MacGegor) sind der Meinung, dass es ein Problem für den Kampf gegen die Klimakrise ist, wenn Bürger*innenschaft auf eine Art und Weise gedacht und vor allem gelebt wird, die zu den Merkmalen dieser Krise im Widerspruch steht. Sie ziehen die Schlussfolgerung, dass wir neu darüber nachdenken müssen, wie Bürger*innenschaft so gedacht und ausgeübt werden kann, dass sie ein Werkzeug und kein Hindernis im Kampf gegen die Klimakrise ist. Dieser Schlussfolgerung schließe ich mich an.

Die Debatte um Bürger*innenschaft in der Klimakrise ist kontrovers

Wie genau könnte bzw. sollte diese neue Form der Bürger*innenschaft aussehen? Das ist in diesem Zusammenhang die entscheidende Frage – und eine sehr komplizierte noch dazu. Von Wissenschaftler*innen wird sie heiß diskutiert und hier prallen so viele sehr spannende, aber teilweise auch sehr komplizierte und vor allem zahlreiche Ideen aufeinander, dass ich sie hier nicht in Gänze darstellen kann. Ich kann aber ein paar Beispiele nennen: Einige Wissenschaftler*innen sind der Ansicht, vor dem Hintergrund der Klimakrise müsse man zuerst über neue bürger*innenschaftliche Rechte nachdenken, bspw. das Recht auf saubere Luft oder eine intakte Umwelt. Andere hingegen finden es wichtiger, vor diesem Hintergrund bürger*innenschaftliche Pflichten, bspw. zu umweltfreundlichem Verhalten, stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Genauso wie es unterschiedliche Ansichten zu dieser Frage bürger*innenschaftlicher Rechte und Pflichten gibt, werden auch andere Fragen kontrovers diskutiert, wie bspw.: Sollte Bürger*innenschaft in Zeiten der Klimakrise weiter als Staatsbürger*innenschaft gedacht werden oder sollte sie jetzt die Mitgliedschaft in einer anderen, größeren Gemeinschaft bedeuten? Sollten Bürger*innen allein die Verantwortung dafür tragen, „nachhaltig“ zu handeln oder dem Staat eine Mitverantwortung zugesprochen werden? Kann bzw. sollte in Zeiten der Klimakrise auch nachhaltiger Konsum als bürger*innenschaftliche Beteiligung gelten?

Wie bereits gesagt kann ich die verschiedenen Positionen zu diesen Fragen nicht vollumfänglich wiedergeben, und tatsächlich möchte ich das auch gar nicht. Ziel dieses Artikels soll es vielmehr sein, zum Nachdenken über die für ihn zentralen Fragen anzuregen: Was bedeutet Bürger*innenschaft? Was bedeutet Bürger*in-Sein in Zeiten der Klimakrise? Und welche Bedingungen müssen geschaffen werden, damit eine neue Form der Bürger*innenschaft auch gelebt werden kann?

Über die Autorin:

Carolin Bohn, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und nachhaltige Entwicklung des Instituts für Politikwissenschaft und am Zentrum für interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) der Universität Münster. Sie setzt sich mit verschiedenen Fragen aus dem Themenfeld „Demokratie und Nachhaltigkeit“ auseinander und interessiert sich dabei besonders für die Aspekte Bürger*innenbeteiligung und politische Urteilsbildung.

Quelle:

Dieser Blogbeitrag wurde auf Basis folgenden Artikels verfasst: Bohn, Carolin (2020): Bürger*innenschaft in der Klimakrise, IN: Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit, 02|2020, S. 35-47.

Zum Weiterlesen:

Mehr zum Verhältnis von liberaler Demokratie und Nachhaltigkeit in diesem Blogartikel: http://nach-haltig-gedacht.de/2020/12/17/angriff-auf-die-freiheit-demokratische-nachhaltigkeitspolitik-und-die-angst-vor-einschraenkungen/

Beitragsbild:

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