Verdorbene Milch, verfaultes Gemüse und ein sehr kaputtes Ernährungssystem Die Coronavirus-Krise zeigt, was daran falsch ist, wie sich die Welt ernährt.

Prof’in Dr. Jennifer Clapp ist eine politische Ökonomin mit dem thematischen Fokus „Globales Nahrungsmittelsystem“.

Dieser Beitrag wurde ursprünglich am 8. Mai 2020 als „Meinung“ in der New York Times veröffentlicht (erstmalig veröffentlicht hier).

 

WATERLOO, Ontario – Den Belgiern wird gesagt, dass sie ihren Konsum von Fritten erhöhen müssen. In ganz Großbritannien haben die Landwirte und Landwirtinnen Millionen Liter Milch in den Abfluss gekippt, anstatt sie zu Butter zu verarbeiten. Im Iran sind Millionen von Hühnerbabys – die eines Tages vielleicht für Grillpartys bestimmt gewesen wären – lebendig begraben worden. In Indien füttern die Bauern ihre Rinder mit Erdbeeren, anstatt letztere auf die Märkte zu schicken.

Sieht so ein „effizientes“ globales Ernährungssystem aus?

Nach Ansicht von Wirtschaftswissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen, Politikern und Politikerinnen und Unternehmen, die in den vergangenen 50 Jahren auf zunehmend vernetzte Lebensmittelversorgungsketten gedrängt haben, sollte es effizient sein: Jedes Land spezialisiert sich auf das, was es am besten kann – Kartoffeln in Belgien, Rindfleisch in Kanada, Kakao in Ghana – und bringt es auf den globalen Markt. Auch die ProduzentInnen und VerarbeiterInnen innerhalb der Länder spezialisieren sich, um die Kosten zu minimieren. Das Ergebnis ist, zumindest theoretisch, dass die Preise niedrig bleiben, die Welt ernährt wird und alle gewinnen.

Das Coronavirus hat gezeigt, dass es ernsthafte Schwächen gibt, wenn man sich zu sehr auf diesen Ansatz verlässt. Die Verbesserung der Effizienz kann sicherlich eine gute Sache sein, insbesondere wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher von Kosteneinsparungen und dem Zugang zu vielfältigeren Lebensmitteln profitieren. Aber die Veränderungen der letzten Jahre haben andere wichtige Ziele untergraben, wie die Fähigkeit, sich während einer Krise anpassen zu können. Wenn neue Barrieren verhindern, dass Lebensmittel ihre Märkte erreichen, oder die Nachfrage plötzlich sinkt – beides geschieht jetzt – fällt das System auseinander.

Der gegenwärtige Zusammenbruch ist das Ergebnis multipler Störungen, für die das Nahrungsmittelsystem schlecht gerüstet ist: Lockdowns, geschlossene Grenzen, Handelsbeschränkungen und das Virus selbst. Jede dieser Störungen hätte Probleme in den komplexen und spezialisierten Lebensmittelversorgungsketten der Welt verursacht. Wenn alle diese Probleme gleichzeitig auftreten, richtet dies verheerende Verwüstungen an.

Der internationale Handel mit Nahrungsmitteln reicht Jahrhunderte zurück – die alten Römer handelten mit Wein über das Mittelmeer; Gewürze reisten über die mittelalterliche Seidenstraße – aber seit den 1970er Jahren, als die landwirtschaftliche Industrialisierung richtig an Fahrt aufnahm, verließen sich immer mehr Menschen darauf, dass ein anderes Land zumindest einen Teil ihres Essens liefert. Der internationale Lebensmittelhandel hat sich seit den 1990er Jahren fast verfünffacht, als sich die Regierungen auf neue Regeln zur Öffnung des Lebensmittelhandels einigten. Heute überquert fast ein Viertel aller produzierten Lebensmittel eine Grenze.

Große transnationale Konzerne sahen eine Chance, von diesen Veränderungen zu profitieren, und sind heute zentrale Akteure im Handel, in der Verarbeitung und Verpackung von Lebensmitteln. Wie wir mit dem Aufkommen mega-großer Unternehmen gesehen haben, die ganze Sektoren in der übrigen Wirtschaft dominieren, haben die größten Lebensmittel- und Landwirtschaftsunternehmen in den letzten Jahren kontinuierlich ihre Konkurrenten aufgekauft und verfügen über enorme Macht.

Diese Veränderungen haben die Lebensmittelsysteme, die einst stärker lokalisiert und vielfältiger waren, grundlegend verändert, um spezialisierter, entfernter und von Unternehmen kontrolliert zu werden. Landwirte und Landwirtinnen schließen zunehmend Verträge über die Produktion einzelner Rohstoffe – Getreide, Fleisch, Milchprodukte – für nur eine Handvoll großer transnationaler Konzerne, die diese verarbeiten und vermarkten. Ein auf diese Weise organisiertes Nahrungsmittelsystem kann zwar „effizient“ sein, indem es niedrigere Preise liefert, aber es hat auch Kosten: für die Umwelt, für die soziale Ungleichheit und, wie die Pandemie gezeigt hat, für die Flexibilität angesichts von Störungen.

Die Spezialisierung macht es schwierig, bei Störungen auf andere Märkte auszuweichen. Belgien, einer der weltweit führenden Exporteure von Kartoffeln, verlor aufgrund von Lockdowns nicht nur Verkäufe an lokale, geschlossene Restaurants, sondern auch an andere europäische Länder und an China. Zumindest die Belgier können versuchen, die Kartoffeln zu Hause zu essen. Diese Strategie wird nicht bei jeder Ernte funktionieren: Die Elfenbeinküste und Ghana, die beiden größten Kakaoexporteure der Welt, verloren Märkte in Europa und Asien, als sich die Menschen während der Abriegelungen darauf konzentrierten, anstelle von Schokolade das Wesentliche zu kaufen.

Der Verlust an Exporteinnahmen in Afrika im Allgemeinen könnte enorme Auswirkungen haben, wenn die Pandemie anhält, da viele Länder des Kontinents stark von Weizen- und Reisimporten abhängig sind. Die Preise für diese Getreidearten sind nicht nur wegen der steigenden Nachfrage nach diesen Grundnahrungsmitteln während der Krise in die Höhe geschnellt, sondern auch, weil einige wenige Länder – darunter Russland und Vietnam – Exportbeschränkungen verhängt haben, aus Angst, dass die Lieferung von Nahrungsmitteln ins Ausland zu höheren Preisen im Inland führen würde. (Andere Länder wie Kanada ernten Gewinne aus den gestiegenen Weizenpreisen).

Konzentrierte Märkte, die von nur einer Handvoll Unternehmen beherrscht werden, schaffen Engpässe, die die Fragilität des Lebensmittelsystems noch erhöhen. Die Fleischverpackungsindustrie ist eine der am stärksten konzentrierten in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern der Welt. In Kanada verarbeiten nur drei Fleischverpackungsbetriebe über 95 Prozent des Rindfleisches und fast alle Rindfleischexporte des Landes. Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Kanada mussten die Fleischverarbeitungsbetriebe wegen Ausbrüchen von Covid-19 unter den ArbeiterInnen vorübergehend stillgelegt werden.

Die Unterbrechungen bei der Fleischverpackung machen auch andere Folgen des Strebens nach Effizienz des Lebensmittelsystems deutlich: seine Abhängigkeit von schlecht behandelten ArbeiterInnen, von denen viele EinwandererInnen und People of Color sind, und seine Abhängigkeit von saisonalen WanderarbeiternInnen, wie die Tatsache beweist, dass Reiseschließungen zu einem weit verbreiteten Arbeitskräftemangel in ganz Europa und Nordamerika geführt haben. Und hier geht es nicht nur um Gerechtigkeit, so wichtig das auch ist: Wenn die Menschen, die die Lebensmittelversorgungsketten in Bewegung halten, durch unsichere Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und geschlossene Grenzen verwundbar gemacht werden, ist das gesamte Lebensmittelsystem verwundbar.

Der Anblick verdorbener Milchprodukte, verfaulten Gemüses und unnötig gekeulter Tiere auf der ganzen Welt sollte uns alle dazu zwingen, unsere „effiziente“ Lebensmittelversorgung zu überdenken und zu versuchen, ein System zu schaffen, das besser in der Lage ist, Schocks zu überstehen. Wir müssen lokale und regionale Lebensmittelsysteme verjüngen, um die Anfälligkeiten zu verringern, die mit einer zu großen Abhängigkeit von importierten und von Unternehmen dominierten Lebensmitteln einhergehen. Das bedeutet nicht, den gesamten Handel abzuschneiden oder alle verpackten Lebensmittel abzuschaffen, aber es bedeutet, Vielfalt, menschenwürdige Existenzgrundlagen für die ArbeitnehmerInnen und Möglichkeiten für kleine und mittelständische Unternehmen zu schaffen, in kürzeren, nachhaltigeren Lebensmittelversorgungsketten zu gedeihen, die näher zur Heimat liegen.

Ein Ansatzpunkt ist, dass die Regierungen ihre Unterstützung vom groß angelegten, spezialisierten und exportorientierten Lebensmittelsystem auf den Aufbau einer Infrastruktur für eine vielfältigere lokale Lebensmittelproduktion und -verarbeitung sowie vielfältigerer Lebensmittelmärkte verlagern. In Nordamerika und auf der ganzen Welt wurden die Klein- und BioproduzentInnen von dem sprunghaft gestiegenen Interesse der Kunden überwältigt, die während der Krise direkt beim Bauern bzw. bei der Bäuerin kaufen wollten. Doch diesen ProduzentenInnen fehlt oft die Infrastruktur, um diese Nachfrage zu befriedigen. Da Regierungen auf der ganzen Welt Konjunkturpakete zur Bewältigung der Krise verabschieden, sollte der Aufbau vielfältigerer und lokalisierter Lebensmittelsysteme offensichtlich mit darin einbezogen werden.

Jahrzehntelang haben alternative Nahrungsmittelbewegungen, die lokale Märkte und nachhaltige Produktionsmethoden fördern, angesichts wachsender sozialer Ungerechtigkeiten und eines sich verändernden Klimas versucht, ihre Reichweite auszuweiten. Doch niedrigere Preise und das reichhaltige Angebot, das das globale Nahrungsmittelsystem bietet, sorgten für ernsthaften Gegenwind. Jetzt, da die Pandemie gezeigt hat, wie anfällig dieses System ist, ist es an der Zeit, den Augenblick zu nutzen, um einen echten Wandel herbeizuführen, der Vielfalt und Widerstandsfähigkeit in den Vordergrund stellt.

 

Zu der Autorin: Jennifer Clapp ist Professorin an der Schule für Umwelt, Ressourcen und Nachhaltigkeit an der Universität von Waterloo in Ontario und die Autorin von Food.

Zu der Übersetzung: Der Beitrag wurde von Pia Mamut aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.

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