Ein Eisberg am Ende des Kapitalismus

Weihnachten: Fest der Liebe, Fest des Konsums. Das Weihnachtsfest, das irgendwann vielleicht mal von Besinnlichkeit und Dankbarkeit geprägt war, ist bis zum letzten Dominostein kommerzialisiert. Und so gehört auch die Kritik an der Vermarktung der Festtage und am Konsumstress inzwischen genauso zu den Feierlichkeiten, wie die Weihnachtslieder im Radio. Doch auch wenn unsere Art zu wirtschaften nicht halt vor den Festtagen macht, so gibt die Geschichte eines Eisbergs Hoffnung, dass es noch etwas außerhalb dieser kapitalistischen Logiken gibt.  

Eine Wirtschaftsweise ohne Zukunft

Egal ob die Wirtschaftsweise in früh industrialisierten Staaten, wie Deutschland, als ‚marktwirtschaftlich‘, ‚neoliberal‘ oder ‚kapitalistisch‘ charakterisiert wird, der aktuelle Blick auf Wirtschaft wird bestimmt von privatem Eigentum, Wachstum und Wettbewerb. Es lässt sich zunehmend schwer verdrängen, dass diese Art zu wirtschaften mit Zielen der Nachhaltigkeit unvereinbar ist: Die voranschreitende Zerstörung von Lebensräumen weltweit, der sich rasant verschärfende Klimawandel, prekäre Arbeitsbedingungen und sich zuspitzende Ungerechtigkeiten führen uns das immer wieder vor Augen. Eine Wirtschaftsweise, die auf Ungleichheiten und der Ausbeutung von Mensch und Natur beruht, kann nur Wenigen zu Gute kommen und steht im klaren Widerspruch zu sozialen und ökologischen Zielen der Nachhaltigkeit.

Alle Hoffnungen auf eine nachhaltige Wende innerhalb der aktuellen wirtschaftlichen Logiken wurden bislang enttäuscht: Eine Entkopplung des Ressourcenverbrauchs vom Wirtschaftswachstum ist bis jetzt nicht möglich und entlarvt unendliches Wachstum als Illusion. Die marktwirtschaftliche Regulierung von Treibhausgasen über Emissionshandel hatte jahrelang keinerlei positiven Effekt auf das Klima (s. hierzu auch diesen ZIN-Blogartikel). Und hoffnungsbringende neue Technologien, wie die E-Mobilität, verursachen oft verheerende Nebeneffekte, z.B. hohe Umweltbelastungen und schlechte Arbeitsbedingungen durch die steigende Nachfrage an Rohstoffen.

Durch ihren Wachstumszwang breitet sich diese unnachhaltige Wirtschaftsweise immer mehr aus und erschließt Märkte genauso wie weitere Bereiche des gesellschaftlichen und individuellen Lebens. Sie ist so eng mit politischen, sozialen und kulturellen Strukturen verknüpft, dass sich die Frage stellt, ob überhaupt noch eine andere Art zu wirtschaften denkbar ist.

Genau die Wirtschaftsweise, die zu uns passt?

Immerhin sind Wachstum, Wettbewerb und Eigentum zu zentralen Bestandteilen des heutigen Lebens in früh industrialisierten Gesellschaften geworden. Ist somit die kapitalistische Wirtschaftsweise nicht vielleicht die einzig Passende?

Das Menschenbild des homo oeconomicus, also die Vorstellung der Menschen als rational kalkulierende, stets auf den eigenen Vorteil bedachte Individuen, hat sich tief in unsere Ideenwelt eingebrannt. Und so wird dieser Idealtyp des Menschen aus der Wirtschaftstheorie oftmals zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Wenn wir davon ausgehen, dass alle Menschen nur ihren eigenen Nutzen maximieren wollen, dann liegt es nahe ebenfalls so zu handeln. Nehmen wir hingegen an, dass der Mensch ein solidarisches und soziales Wesen ist, sind wir viel eher dazu geneigt uns auch so zu verhalten. Fest steht, dass Menschen sowohl zu solidarischem als auch egoistischem Handeln fähig sind. Die Erzählung des homo oeconomicus führt aber dazu, dass letzteres als Norm gilt und somit gefördert und bestärkt wird. So baut auch die kapitalistische Wirtschaftsweise auf dem Bild des homo oeconomicus auf und bringt vor allem nutzenmaximierendes Handeln zum Vorschein.

In den Köpfen der Einzelnen verfestigen sich zudem die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten, somit auch kapitalistische Grundsätze, in sogenannten mentalen Infrastrukturen (Welzer 2011). Diese beeinflussen maßgeblich persönliche Vorstellungen und Denkweisen. Auf diese Weise sind auch Ideen von Glück, Freiheit oder einem erfüllten Leben oftmals von Steigerung und Konkurrenz geprägt. Dort, wo Wachstum als Grundpfeiler unserer Wirtschaftsweise begriffen wird, geht es auch vielen Menschen um eine unentwegte Steigerung ihrer Zufriedenheit: immer mehr muss erlebt, erfahrbar, bereist oder besessen werden. Wo Effizienzsteigerung als zentrales Ziel gesetzt wird, streben auch viele Menschen auf der Suche nach einem erfüllten Leben danach, jede Minute ihres Tages maximal auszunutzen und zu optimieren. Und da, wo Eigentum und Konsum zentrale Rollen spielen, zeigen sich Vorstellungen von Freiheit vielleicht mehr in einer großen Produktauswahl, als in dem Wunsch nach gesellschaftlicher Mitbestimmung.

Diese beiden Beispiele zeigen auf, wie tief die kapitalistische Wirtschaftsweise mit den Gesellschaften und Menschen, die in ihr leben, verknüpft ist. Jedoch ist es weniger die Art zu wirtschaften, die zu diesen Gesellschaften passt, als vielmehr die Gesellschaften, die ihr angepasst werden. Die Erzählung des homo oeconomicus und die Ausbildung spezifischer mentaler Infrastrukturen sind Mechanismen, die dazu beitragen. Durch diese tiefe Verankerung und Allgegenwärtigkeit kapitalistischer Logiken scheint der Wandel zu einer anderen, nachhaltigeren Wirtschaftsweise weit entfernt.

Der Eisberg: Alternativen unter der Oberfläche

Doch so einfach ist es zum Glück nicht. Julie Graham und Katherine Gibson, die zusammen ein Autorinnen-Kollektiv bilden, wollen das Bild des unüberwindbaren Kapitalismus aufbrechen und rufen dazu auf, sich die Sphäre der Wirtschaft wieder anzueignen. Ihre Arbeit ist ein hoffnungsvolles Plädoyer dafür, nicht die Menschen der Wirtschaftsweise zu unterwerfen, sondern die Wirtschaftsweise den Bedürfnissen der Menschen wieder anzupassen.

Bildquelle: https://bit.ly/33S7Cwm

Gibson-Graham stellen einerseits die Dominanz kapitalistischer Logiken infrage, ohne deren realen Auswirkungen zu ignorieren, und zeigen gleichzeitig Alternativen auf. Anhand eines Eisberg-Modells veranschaulichen sie, dass in heutigen Gesellschaften vielfältige Formen des Wirtschaftens existieren, die nach ganz anderen Logiken funktionieren. Die sichtbare Spitze des Eisbergs bilden kapitalistische Phänomene, wie der Handel mit Waren, der Abhängigkeit von entlohnter Arbeit und immer größeren und einflussreicheren Unternehmen. Unter der Oberfläche liegen unsichtbar viele weitere, nicht-kapitalistische oder nicht-marktwirtschaftliche Tätigkeiten, die nach Gibson-Graham über 50% aller wirtschaftlichen Aktivitäten ausmachen. Dazu gehören etwa unbezahlte Hausarbeit, Leihgaben, Pflege von Angehörigen oder Open-Source-Projekte. Wir leben im Alltag somit bereits verschiedenste Wirtschaftsweisen, die nicht zwangsläufig auf Logiken, wie Wettbewerb, Wachstum oder der eigenen Nutzenmaximierung, beruhen. Und auch zur Weihnachtszeit finden wir solche Phänomene: Spenden, Freundinnen und Freunden zum Essen einladen oder Geschenke machen.

Diese Tätigkeiten liegen unter der Wasseroberfläche und werden somit nicht als wirtschaftliche Aktivitäten wahrgenommen. Auf diese Weise macht der Eisberg einen zweiten zentralen Punkt deutlich, der seit jeher eine zentrale Rolle in feministischen Forderungen spielt: Es kommt nicht nur darauf an, wie wir wirtschaften, sondern ebenfalls darauf, was wir überhaupt unter ‚Wirtschaft‘ verstehen. Wie wichtig die Diskussion dieser Trennlinie ist, die Tätigkeiten in ‚wirtschaftlich‘ und ‚nicht-wirtschaftlich‘ unterteilt, zeigt sich am Beispiel der so genannten Care-Arbeit: Dabei handelt es sich um die Erkenntnis, wie viel unbezahlte und ‚unsichtbare‘ Arbeit, z.B. Hausarbeit, Pflege, Kinderbetreuung oder emotionale Unterstützung, hinter bezahlter Arbeit am Arbeitsplatz steckt. Und ohne die diese gar nicht möglich wäre.   

Die Wirtschaft wieder aneignen & Alternativen stärken

Mit der Frage was Wirtschaft eigentlich ausmacht, stellen Gibson-Graham die These vom scheinbar allumfassenden Kapitalismus zur Diskussion. Unter dem Motto „Take back the economy“ („Die Wirtschaft zurückholen”) versuchen sie das dominante Verständnis von Wirtschaft aufzubrechen, was sich oftmals auf Märkte, Unternehmen und Profite beschränkt.

Die Autorinnen legen den Fokus dabei auf die grundsätzliche Bedeutung der Wirtschaftsweise. In diese fließen, laut Gibson-Graham, all die „Entscheidungen darüber [ein], wie man sich um ein Gemeingut kümmert und es teilt, was man zum Überleben produziert, wie man anderen im Prozess des gemeinsamen Überlebens begegnet, wie viel Überschuss man produziert, wie man ihn verteilt und wie man ihn für die Zukunft investiert“ (Gibson-Graham, Take back the economy).

Somit geht es beim Wirtschaften in erster Linie um die Bedürfnisbefriedigung von Gemeinschaften, also die Produktion und Reproduktion unserer Gesellschaften. Dabei können Wachstum, steigende Profite und Effizienzsteigerungen nicht den Zweck von Wirtschaft darstellen, sondern lediglich Maßnahmen, die sich an diesem Ziel messen lassen müssen.

Die Autorinnen zeigen auf, dass die Wirtschaft keinesfalls ein homogener, unveränderlicher Block ist, sondern vielmehr ein vielfältiges Konstrukt und das Ergebnis von Entscheidungen. Was zunächst als eine undurchdringliche und gegebene Sphäre erscheint, wird somit veränder- und verhandelbar. Um die scheinbare Einheitlichkeit der Wirtschaftsweise weiter aufzubrechen, boykottieren sie gezielt den Begriff des ‚Kapitalismus‘. Ihre Strategie ist, ihn explizit nicht als Kampfbegriff, als mobilisierenden und verbindenden Moment, zu nutzen, sondern zu dekonstruieren. Durch Differenzierungen, wie etwa ‚kapitalistische Logiken‘, wollen sie die Dominanz dieser Wirtschaftsweise hinterfragen und zurückdrängen, Widersprüche und Risse hervorheben und Alternativen Raum geben.

Somit gibt Gibson-Grahams Eisberg Hoffnung auf Veränderungen. Er zeigt auf, dass eine kapitalistische Wirtschaftsweise nicht absolut ist und welche vielfältigen Alternativen des Wirtschaftens bereits existieren, die als Ausgangspunkte für Wandel dienen können (mehr dazu hier). Das Eisberg-Modell ist dabei keine Anleitung für eine neue Wirtschaftsordnung. Aber es hebt in Zeiten, in denen Optimierung und Wachstum, Wettbewerb und Gewinnstreben, Einzug in so viele Bereiche des Lebens erlangt hat, die Dinge hervor, die sich nicht in diese Logiken einfügen. Und wie wir diese bewahren und stärken können. Auch – oder vor allem – zur Weihnachtszeit.

Quellen und weiterführende Links:

J.K. Gibson-Grahams Projekt der Community Economies (in Englisch): http://www.communityeconomies.org/index.php/

Interview mit Katherine Gibson. “Post-Capitalist Politics” (in Englisch): https://www.youtube.com/watch?v=Y-FG5l4gUSQ

H. Welzer (2011). Mentale Infrastrukturen. Wie das Wachstum in die Welt und in die Seelen kam. Heinrich Böll Stiftung, Band 14.

R. Bregman (2020). Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit. Rowohlt.

Dieser ZIN-Blogartikel widmet sich einem ähnlichen Zugang, wie der obige Beitrag:

Was ist eigentlich „Lebensqualität“ und wie lässt sie sich messen? Die Autorinnen des Beitrags zeigen auf, dass bestehende Indikatoren-Sets zur Messung von Lebensqualität (LQ) wichtige ökonomische Aspekte des gesellschaftlichen Wohlbefindens nicht messen (etwa: nicht-marktbasierte Beiträge zu LQ und die informelle Wirtschaft). Hier geht’s zum Beitrag.

Zu der Autorin:


Sophie Dolinga studiert im Master Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und arbeitet als Studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung. Den Fokus legt sie auf Möglichkeiten eines nachhaltigen Gesellschaftswandels, soziale Bewegungen und Klimapolitik.

Bildquellen
Beitragsbild: pixabay
Bild in dem Beitrag: Diverse Economies Iceberg by Community Economies Collective
[Diverse Economies Iceberg by Community Economies Collective is licensed under a Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 International License.] http://www.communityeconomies.org/index.php/resources/diverse-economies-iceberg