Wir (Mitglieder und Mitarbeitende des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Uni Münster) stellen uns hier die Frage, wie wir leben wollen – in unserer Gesellschaft, auf dieser Erde. Was macht ein gutes Leben aus? Was ist zukunftsfähig in Bezug auf die Umwelt, aber auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie?
Mit anderen Worten: es geht um soziale und umweltbezogene, wie auch politische und wirtschaftliche Aspekte und Entwicklungen, die uns betreffen. Gemeinsamer Nenner ist die Sorge um unsere Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft. Dabei stellen wir ab jetzt regelmäßig Denkanstöße, Kommentare, Fundstücke und interessante Forschungsergebnisse vor. Viel Spaß beim Lesen!
Wir (Mitglieder und Mitarbeitende des Zentrums für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung der Uni Münster) stellen uns hier die Frage, wie wir leben wollen – in unserer Gesellschaft, auf dieser Erde. Was macht ein gutes Leben aus? Was ist zukunftsfähig in Bezug auf die Umwelt, aber auch auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie?
Mit anderen Worten: es geht um soziale und umweltbezogene, wie auch politische und wirtschaftliche Aspekte und Entwicklungen, die uns betreffen. Gemeinsamer Nenner ist die Sorge um unsere Lebensqualität in Gegenwart und Zukunft. Dabei stellen wir ab jetzt regelmäßig Denkanstöße, Kommentare, Fundstücke und interessante Forschungsergebnisse vor. Viel Spaß beim Lesen!
Mitte September wandten sich über 200 internationale Wissenschaftler*innen in einem offenen Brief an die Entscheidungsträger*innen der Europäischen Union. Im Rahmen der überparteilichen „Post-Growth 2018“-Konferenz in Brüssel, hatten Abgeordnete des EU-Parlaments NGO-Vertreter*innen und Wissenschaftler*innen zur gemeinsamen Diskussion über mögliche Wege hin zu einer Wirtschaft ohne Wachstum eingeladen. In ihrem Manifest fordern die Wissenschaftler*innen eine langfristige Abkehr vom Wirtschaftswachstum.
Die vier Kernforderungen des Briefes beinhalten u.a. auch die Forderung nach der Weiterentwicklung alternativer Wohlstandsindikatoren. Denn Wirtschaftswachstum ist zum zentralen Bestandteil der Volkswirtschaftslehre aufgestiegen und in unser aller Köpfe als fester Wohlstandsindikator verankert (siehe dazu Wohlstand neu denken – Wachstum hinterfragen). Aktienunternehmen werden tagtäglich an ihrem Börsengewinn gemessen, jährlich wird das nationale Wirtschaftswachstum vorhergesagt und Politiker*innen messen den Erfolg einer ganzen Amtszeit am Anstieg des Wirtschaftswachstums, sprich am Bruttoinlandsprodukt (BIP).
Das BIP, mit dem das Wirtschaftswachstum gemessen wird, ist nach dem Zweiten Weltkrieg zum festen Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand geworden. Die These dabei lautet: Je höher das BIP eines Landes und je stabiler die Wachstumsraten, desto höher der gesamtgesellschaftliche Wohlstand und der Lebensstandard. Warum also muss das BIP als zentraler Maßstab für gesellschaftlichen Wohlstand kritisch hinterfragt werden?
Das BIP – Ein vielseitig unzureichender Maßstab
Schon bei einem ersten Blick auf die Messfaktoren des BIP stellt man fest, dass lediglich gehandelte Leistungen – also Waren und Dienstleistungen – erfasst werden. Nicht miteinbezogen werden beispielsweise Sorgearbeit in der Familie, ehrenamtliches Engagement oder der Einfluss der Wirtschaft und Industrie auf die Umwelt – und dass, obwohl eine intakte Umwelt und Gesellschaft unabdingbare Voraussetzungen für ein gutes (Zusammen-)Leben darstellen. Oder, um es in den Worten Robert F. Kennedy’s zu sagen: „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles – außer dem, was das Leben lebenswert macht.“
In der heutigen Berechnung des BIP werden umweltschädliche Verhaltensweisen wie beispielsweise Müllverbrennung, Ressourcenausbeutung oder Müllentsorgung als wirtschaftliche Aktivitäten gezählt und somit in die Berechnung des Bruttoinlandsproduktes miteinbezogen. Gleichzeitig schrumpft u.a. durch solche wirtschaftliche Aktivitäten die Artenvielfalt, während die Verknappung von Ressourcen wie Metalle, Mineralien, Biomasse und fossile Energieträger voranschreitet. Insofern ist das BIP unzureichend, um den gesamten Wohlstand zu berechnen. Es müssen also Alternativen her!
Die Alternativen
Auch wenn auf lange Sicht eine Abkehr vom sturren Glauben an Wachstum und die Neudefinierung des Wortes „Wohlstand“ unabdingbar scheinen, ist es noch ein langer Weg dorthin. Auf kurze Sicht kann jedoch schon jetzt ein Umdenken im Messen des gesellschaftlichen Wohlstandes geschehen, sprich, ein Abschied vom BIP hin zu Alternativen. Im Folgenden werden daher einige alternative Maßstäbe kurz vorgestellt:
Human Development Index
Der HDI misst den Stand der menschlichen Entwicklung. Seit dem Jahr 1990 wird er vom Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) erhoben. Ursprünglich von den Ökonomen Mahbubul Haq und dem Nobelpreisträger Amartya Sen entwickelt, deckt der HDI in drei unterschiedlichen Kategorien die soziale Entwicklung einer Gesellschaft ab. Die drei Kriterien sind: die allgemeine Lebenserwartung, die durchschnittliche Anzahl an Schuljahren pro Person und das BIP pro Kopf. Oftmals werden jedoch die Kriterien „Lebenserwartung“ und „Anzahl der Schuljahre“ kritisiert, da diese Kriterien westliche Lebensstandards bevorzugen.
Gross National Happiness Index (Bruttoglücksprodukt)
Das „Bruttoglücksprodukt“ wurde 1972 im Königreich Bhutan eingeführt. Im Sinne des buddhistischen Glaubens werden neun Variablen zur Berechnung des Anzeigers berücksichtigt. Hierzu zählen u.a. Bildung, Intensität des Zusammenlebens, Zeitnutzung, die gute Regierungsführung und das psychische und physische Wohlbefinden. Das Konzept hat weltweit große Beachtung gefunden. Für die weltweite Vergleichbarkeit wurde der Anzeiger von der „New Economics Fundation“ im Jahr 2006 zum World Happiness Index weiterentwickelt.
Ökologischer Fußabdruck
Der „Ökologische Fußabdruck“ drückt den individuellen, aber auch den nationalen Ressourcenverbrauch in CO2-Emissionen aus. Berücksichtigt werden dabei folgende Kategorien: Nahrung, Haushalt, Mobilität, Dienstleistungen und Konsumgüter. Der Maßstab wurde im Jahr 1994 von Wissenschaftlern der Universität of British Columbia entwickelt und wird heute vor allem von Nichtregierungsorganisationen eingesetzt.
Genuine Progress Indicator (GPI)
Er ist der einzige der bereits existierenden, alternativen Indikatoren, der den Anspruch hat, das BIP vollständig zu ersetzen. Der „wirkliche Fortschrittsindikator“ (dt. Übersetzung) gleicht die verzerrenden Faktoren des BIP, also umweltverschmutzende und gesundheitsschädliche Investitionen, aus. Die Folgekosten dieser wohlstandsmindernden Investitionen werden vom BIP abgezogen. Somit soll eine glaubwürdige Aussage über die Nachhaltigkeit eines Staates getroffen werden können. Die 26 sozialen, ökologischen und ökonomischen Faktoren berücksichtigen u.a. den Ressourcenverbrauch, das Einkommensgleichgewicht und nicht bezahlte Fürsorge- und Pflegearbeit. Der GPI der USA hat sich seit den 70er Jahren übrigens nicht verändert.
Nationaler Wohlfahrtsindex
Im Auftrag des Bundesumweltamtes wurde der NWI im Jahr 2008 von Verwaltungswissenschaftler Roland Zieschank und Ökonom Hans Diefenbacher für die Bundesrepublik entwickelt. Ähnlich wie beim GPI werden in der Messung die drei Aspekte Soziales, Ökologie und Ökonomie abgedeckt. Insgesamt werden 20 Komponenten, bestehend aus wohlfahrtsstiftenden und wohlfahrtsmindernden Aktivitäten, addiert. Darunter fallen u.a. der private Konsum, Bildungsausgauben, Umweltverschmutzung und Gesundheitsschäden. Durch den Abgleich mit dem BIP entsteht so eine Handlungsempfehlung für eine zukunftsfähige Politik. Während das BIP seit dem Jahr 1991 um 30% gestiegen ist und weiter wächst, stieg der NWI lediglich um 3,1%. Von 2000 bis 2005 nahm er ab und stagniert seitdem.
Alternativen zum BIP weiterdenken
Der Großteil der bestehenden Alternativen deckt jedoch nur Teilaspekte des gesellschaftlichen Wohlstands ab. Zum Beispiel gelingt es mit dem ökologischen Fußabdruck unseren Ressourcenverbrauch äußerst anschaulich darzustellen, nicht aber den gesellschaftlichen Mehrwert von ehrenamtlichem Engagement oder Pflegearbeit zu messen. Der Gross Happiness Index dagegen bezieht in seiner Berechnung eine umfassende Anzahl an Faktoren mit ein, ist durch seine Fixierung auf das Königreich Buhtan jedoch nur bedingt auf andere Länder anwendbar. Darüber hinaus werden wichtige Faktoren, wie das gesundheitliche Wohlergehen der Bevölkerung durch diese Wohlstandsmessung vernachlässigt. Bei näherer Betrachtung des „Human Development Index“ muss besonders die Fokussierung auf den Entwicklungsbegriff kritisch hinterfragt werden. In der momentanen Messung ist der Begriff vor allem westlich geprägt. Somit besteht die Gefahr, dass der westliche Lebensstil noch stärker als weltweite Norm etabliert wird.
Letztlich können – Stand heute – lediglich der Genuine Progress Indicator und der daran angelehnte Nationale Wohlfahrtsindikator ein ganzheitlich, alternatives Wohlstandsmaß bieten, da sie bei einer ganzheitlichen Betrachtung die verzerrenden Faktoren des BIP (Umweltverschmutzung, Gesundheitsgefährdung uvm.) ausgleichen. Mit Ausnahme des GPI und NWI dienen die aufgeführten Maße schließlich vor allem zur Ergänzung des Bruttoinlandsprodukts. Bis beispielsweise der GPI oder ein anderes Maß das BIP auf internationaler Ebene ersetzt, ist es also noch ein langer Weg. Doch das Motto auf diesem Weg muss heißen: Wohlstand neu messen und Wirtschaft neu denken!
Zum Weiterlesen:
Diefenbacher, Hans; Zieschank, Roland (2011): Woran sich Wohlstand wirklich messen lässt. Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt. Oekom Verlag.
Paech, Niko (2012): Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie. Oekom Verlag.
[…] ist ein zentrales Merkmal sogenannter kapitalistischer Gesellschaften (siehe dazu Wohlstand neu messen! Alternativen zum BIP). Die Postwachstums- bzw. Degrowth-Bewegung ist eine junge sozial-ökologische Bewegung, die ihre […]
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[…] ist ein zentrales Merkmal sogenannter kapitalistischer Gesellschaften (siehe dazu Wohlstand neu messen! Alternativen zum BIP). Die Postwachstums- bzw. Degrowth-Bewegung ist eine junge sozial-ökologische Bewegung, die ihre […]