Wirtschaftswachstum ist heute immer wieder ein großes Thema in den Debatten und wird dort meist als notwendig und positiv dargestellt. Die Ausrichtung am Wirtschaftswachstum ist ein zentrales Merkmal sogenannter kapitalistischer Gesellschaften (siehe dazu Wohlstand neu messen! Alternativen zum BIP). Die Postwachstums- bzw. Degrowth-Bewegung ist eine junge sozial-ökologische Bewegung, die ihre Ideen und Initiativen als radikalen Gegenentwurf zum bestehenden, nicht-nachhaltigen Zustand kapitalistischer Gesellschaften versteht. Zum inoffiziellen Symbol für diese Bewegung wurde die Schnecke. Ihre Versinnbildlichung von Langsamkeit verkörpert zentrale Forderungen der Bewegung wie etwa eine zeitliche Entschleunigung, genügsame Lebensstile und sozial- und umweltverträgliche Lebens- und Wirtschaftsweisen. Damit ist die Bewegung ein zentraler Hoffnungsträger für die Suche nach einem besseren Leben und eine entschlossene Antwort auf große, weltweite Herausforderungen, wie den Klimawandel, eine wachsende Kluft zwischen arm und reich, und die Krisenanfälligkeit des Finanz-und Wirtschaftssystems. Die Degrowth-Bewegung ist aber auch Zielscheibe für Kritik: Ihr wird u.a. vorgehalten nicht konsequent genug nach ihren eigenen Idealen zu streben und zu leben und damit, wie eine Schnecke im Hamsterrad, den Kräften ausgeliefert zu sein, die sie eigentlich bekämpfen will. Dieser Blogbeitrag stellt die Ziele und das Selbstverständnis der Degrowth-Bewegung vor und beleuchtet die inneren Widersprüchlichkeiten, mit denen die Bewegung konfrontiert ist. Gleichzeitig zeigt er auf, wo diese inneren Spannungsverhältnisse positive Energien zu entfalten können.
Die Degrowth-Bewegung: Ein bunter Blumenstrauß
Die Degrowth-Bewegung geht auf eine Vielzahl von Ideen und Initiativen zurück, die in verschiedenen Regionen, Kommunen, Kooperativen, und Projekten der Welt zu Hause sind. Diese beschäftigen sich mit Konzepten wie dem Guten Leben, Voluntary Simplicity, solidarischem und ökologischem Wirtschaften und mit Modellen der Conviviality, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Kern lässt sich die Bewegung als eine Suche nach einer Lebensweise verstehen, die sich innerhalb der sozialen und ökologischen Grenzen des Planeten bewegt. Sie verfolgt dabei eine direkte Kritik an dem Fortbestehen von Wirtschaftssystemen, Technologien und Institutionen, die gemeinhin auf den Annahmen von Profitorientierung und der Möglichkeit eines unbegrenzten Wachstums basieren. Diese werden als verantwortlich für soziale Ungleichheiten und überbordende Umweltprobleme gesehen, sowohl innerhalb der Gesellschaften des globalen Nordens und Südens, als auch im Hinblick auf zukünftige Generationen.
Diese Grundidee verfolgt die Degrowth-Bewegung weder allein noch als allererste Initiative in der jüngsten Geschichte: Bereits Anfang der 70er Jahre hatte der Club of Rome in seinem berühmten Bericht auf „Die Grenzen des Wachstums“ hingewiesen. Die Degrowth-Bewegung ist damit vergleichsweise jung und traf sich erstmals auf größerer, internationaler Bühne im Jahr 2008. Doch welches Verständnis hat die Degrowth-Bewegung bei aller thematischen Vielfältigkeit von sich selbst? In einem 2015 erschienenen Einführungswerk „Degrowth: A Vocabulary for a New Era“ haben eine Gruppe von Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen ein Mosaik von Perspektiven und Ideen vorgestellt, die sich allesamt mit der Leitidee „Degrowth“ identifizieren. Darin wird jedoch auch betont, dass sich Degrowth als Bewegung gegen eine klare Definition sperre. Denn so eine Definition erschwere das zentrale Anliegen der Bewegung, offen für möglichst viele und unterschiedliche Blickwinkel und Interpretationen zu sein. Zudem verstehe sich die Bewegung als ein Suchprozess nach einer alternativen Lebensweise, der ohne fixen Endpunkt sei. Am ehesten ist die Degrowth-Bewegung demnach womöglich als bunter Blumenstrauß zu bezeichnen, der im steten Wandel begriffen und in sich verschieden ist.
Kein Entkommen aus dem Hamsterrad?
Die Degrowth-Bewegung schürt nicht nur Hoffnungen auf eine bessere Welt, sondern ist auch Gegenstand von Kritik und Skepsis, insbesondere aus den eigenen Reihen. Gemeinhin wird der Degrowth-Bewegung vorgeworfen, mit der Forderung nach sozialen und ökologischen Grenzen der Belastbarkeit zwar ein notwendiges Ziel zu verfolgen, aber dabei nicht ihren eigenen Maßstäben gerecht zu werden oder diesen gar zuwiderzulaufen. Die vielen Initiativen und wissenschaftlichen Modelle zum übergeordneten Thema Degrowth zeigen, dass diese vordergründig, wenn nicht ausschließlich, in kleinen Gemeinschaften und Räumen funktionieren und selbst dort oftmals an ihre Grenzen stoßen. Zugespitzt formuliert meint diese Kritik zum einen, dass die Bewegung dazu verdammt ist ein Nischenmodell zu bleiben. Zum anderen wird lamentiert, dass im Grunde genommen eine Jede und ein Jeder Teil dieser Bewegung sein kann, die oder der Lust darauf hat und es sich leisten kann. Man denke da etwa an einen um die Welt jettenden Klimaschutz-Wissenschaftler, eine Umweltaktivistin mit Smartphone-Affinität, oder eine Verfechterin alternativer Konsumweisen, die es sich in erster Linie finanziell leisten kann Bio einzukaufen. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass sich Menschen über alle möglichen Aktivitäten und Lebensbereiche identifizieren, und dass Widersprüche dabei vorprogrammiert, ja menschlich sind. Trotzdem wecken die drei obigen Beispiele inkonsequenter Lebensstile zumindest Zweifel: Kann es diesem Flickenteppich von privaten Lebensstilen wirklich gelingen radikale Veränderungen zu bewirken (Blühdorn & Kollegen 2012)? Und gibt es für diese Bewegung hinreichend Rückhalt in der Welt, oder ist sie vielmehr lediglich ein grünes Wohlstandsmodell von und für den globalen Norden?
Des Weiteren vermag der Fokus auf und die Begeisterung von vielversprechenden „Degrowth“-Technologien dazu führen, dass das Wesentliche aus dem Blick gerät. So scheinen insbesondere technikbegeisterte Vertreter*innen der Bewegung einen Hype um einzelne Dinge wie Komposttoiletten und pedalbetriebene Waschmaschinen zu veranstalten. Das könnte aber unbeabsichtigt den Eindruck vermitteln, es bräuchte (wieder einmal) lediglich bessere Technologien, um einen Wandel zu bewerkstelligen. Das Drumherum, also das Herausbilden einer neuen sozialen und kulturellen Gemeinschaft, die verschiedene Gruppen miteinbezieht und begeistert, scheint – so möglicherweise die unbewusste Annahme – dann irgendwie automatisch zu erfolgen.
Im Zuge dieser Kritik drängt sich die Frage auf, welchen Wandel die Degrowth-Bewegung wirklich zu bewirken vermag – oder, ob sie nicht vielmehr zur Aufrechterhaltung des bestehenden, nicht-nachhaltigen Zustandes beiträgt? Schließlich droht zuweilen durch das breite Nebeneinander und Miteinander von Ideen und Initiativen nicht eine Bereicherung und Vertiefung des Degrowth-Leitbildes, sondern seine Verwässerung zu Lasten seiner politischen Schlagkraft. Einige Vertreter*innen der Bewegung sind bspw. zurecht besorgt darüber, dass die Aufforderung weniger zu konsumieren häufig falsch verstanden werde, nämlich als der Aufruf einfach anders zu konsumieren (D‘ Alisa & Kollegen 2015). Damit ginge nämlich auch die politische Forderung an den Staat und die Gesellschaft verloren, die eigene unnachhaltige Lebensweise tiefgreifend zu verändern (Brand & Wissen 2017).
Schnecken sind langsam, aber nicht lahm!
Es wäre jedoch unzureichend diese Kritikpunkte hier nur darzustellen, ohne auch die möglichen Gründe für die inneren Widersprüchlichkeiten und damit Chancen für ihre Auflösung zu beleuchten. Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass die Degrowth-Bewegung nicht nur eine faire Zukunft gestalten möchte, sondern dass sie sich in der Pflicht sieht bereits den Prozess dorthin so offen und inklusiv wie möglich zu gestalten. Der Versuch diesen eigenen, hehren Ansprüchen gerecht zu werden, lähmt jedoch gleichzeitig den wichtigen Prozess der Bewegung sich stärker politisch zu profilieren, abzugrenzen und zu organisieren (Blühdorn & Kollegen 2012). Gleichzeitig ist die Degrowth-Bewegung für ein einheitlicheres Auftreten in sich zu verschieden und muss daher, um offen und inklusiv zu sein, verzweigt und in kleineren politischen Gruppen auftreten und gruppenübergreifend kooperieren.
Des Weiteren befindet sich die Bewegung auch in einem Lernprozess, in dem sich einzelne Projekte und Initiativen konkret mit den formellen und informellen Gestaltungsanforderungen von Demokratie, Inklusivität, Repräsentativität und eigenen Standards hinsichtlich sozialer und ökologischer Grenzen auseinanderzusetzen. – Als ich im Sommer 2018 an einer Akademie zum Thema Degrowth & Environmental Justice teilgenommen habe, waren dies ebenfalls einige der zentralen Herausforderungen, mit denen sich die Organisator*innen, Lehrenden und Teilnehmenden konfrontiert sahen. Gleichzeitig bleibt herauszustellen, dass die Degrowth-Bewegung von einem außergewöhnlichen politischen Engagement einzelner Initiativen getragen wird, in denen sich einzelne Menschen über viele Jahre mit außerordentlicher Verbindlichkeit engagieren. Diese Menschen sind Vorbilder und Pioniere, die sich in sozialen Gruppen einbringen, ihre Nachbarschaft mitgestalten und ganz konkret Veränderungen bewirken. Und dies ist ein Potenzial zur Veränderung, das bei allen Widersprüchlichkeiten gerne unterschätzt und übersehen wird. Eine genauere Betrachtung der Gründe für diese Widersprüche und gleichzeitig der Stellschrauben für Wandel kann helfen, die Anstrengungen der Degrowth-Bewegung fairer zu beurteilen und ihr die nötige Zeit bzw. den nötigen Raum für Erprobungen zu geben.
Quellen:
Blühdorn, I. / Butzlaff, F. / Deflorian, M. / Hausknost, D. (2018) „Transformation Research and Academic Responsibility. The social theory gap in narratives of radical change“, IGN-Interventions Mar|2018, INSTITUTE FOR SOCIAL CHANGE AND SUSTAINABILITY (IGN), Vienna University of Economics and Business, Austria.
Brand, U., & Wissen, M. (2017). Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus, München: oikom.
D’Alisa, G., Demaria, F., & Kallis, G. (Eds.). (2015). Degrowth: A Vocabulary for a New Era //
Degrowth: A vocabulary for a new era. New York, NY: Routledge.
Nachweis Titelbild: © Pia Buschmann: Das Foto zeigt eine Schnecke auf grünen Blättern, abgebildet auf der Fassade der Sagrada Família in Barcelona, Spanien.