Als Reaktion auf die monatelangen Proteste der Gelbwesten in Frankreich wurde mit der „Convention citoyenne pour le climat“ (deutsch: BürgerInnenversammlung für das Klima) ein partizipatives Instrument im Kampf gegen den Klimawandel ausgerufen. Eine solche Versammlung wurde im Rahmen der Gelbwestenproteste mehrmals gefordert, und auch in Deutschland schreiben Klimabewegungen (z.B. Extinction Rebellion) der Organisation solcher partizipativer Verfahren einen hohen Wert für die Entwicklung effektiven Klimaschutzes zu. Unterstützende Argumente finden sich zudem in der sozialwissenschaftlichen Literatur .
Es stellt sich nun die Frage nach den Chancen einer BürgerInnenversammlung für die sozial-ökologische Transformation. Wie effektiv und wie legitim kann eine BürgerInnenversammlung Klimapolitik machen? Und können BürgerInnen klimapolitische Entscheidungen überhaupt schultern und somit soziale Gerechtigkeit und verstärkte Klimaambitionen miteinander in Einklang bringen? Andererseits kann gefragt werden, wie mit den einmal verabschiedeten Maßnahmen umgegangen wird und welchen realen Einfluss sie letztendlich haben. Selbst die ambitioniertesten Vorschläge laufen Gefahr, abgelehnt oder verwässert zu werden, wenn der politische Wille nicht vorhanden ist.
Die Einberufung der BürgerInnenversammlung als Reaktion auf eine Krise der repräsentativen Demokratie in Frankreich
Die Proteste der „Gilets Jaunes“ (deutsch: Gelbwesten) in Frankreich begannen gegen Ende des Jahres 2018 als Reaktion auf die Ankündigung von Staatspräsident Emmanuel Macron, eine CO2-Steuer einzuführen. Diese Abgabe sollte auf fossile Brennstoffe erhoben werden, um den Klimawandel zu bekämpfen. Die Aussicht auf die damit zu erwartenden Preiserhöhungen von Benzin und Diesel waren der Auslöser für landesweite Protest- und Blockadeaktionen.
Die Gilets Jaunes richteten sich gegen diese als ungerecht empfundenen angekündigten CO2-Steuer. Die Bewegung wurde hauptsächlich über die sozialen Medien organisiert. In Reaktion auf die massiven Proteste, die Symbol für eine tiefe Legitimationskrise des politischen Systems in Frankreich sind, rief Macron im April 2019 eine BürgerInnenversammlung ein, die „Convention citoyenne pour le climat“.
Die BürgerInnenversammlung fand in Weiterführung der „Grand Débat national“ (deutsch: „Große Nationale Debatte“) statt, die den Dialog zwischen BürgerInnen und PolitikerInnen wiederherstellen sollte. Während die „Grand Débat“ in der französischen Presse als reines Befriedungsinstrument der protestierenden französischen Gesellschaft interpretiert wurde, wurde mit der darauf aufbauend organisierten BürgerInnenversammlung die Hoffnung verbunden, einen realen Einfluss auf den politischen Entscheidungsprozess zu nehmen.
Die BürgerInnenversammlung hat das Ziel, ökologische, soziale und ökonomische Perspektiven miteinander zu vereinen und somit zu einer sozial gerechten ökologischen Transformation zu gelangen. Zivilgesellschaftliche Gruppierungen (u.a. Collectif des gilets citoyens) hatten in einem offenen Brief an Präsident Macron die Einberufung einer BürgerInnenversammlung als Bedingung für die Fortführung der Grand Débat gefordert. Das dann offiziell von der Regierung und Präsident Macron definierte Mandat der Versammlung besteht darin, Maßnahmen festzulegen, um im Sinne der sozialen Gerechtigkeit bis 2030 eine mindestens 40%ige Reduzierung der Treibhausgasemissionen (im Vergleich zu 1990) zu erreichen.
Eine Übung mitgestaltender Demokratie mit ambitionierten Ergebnissen
150 französische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger wurden repräsentativ und zufällig ausgewählt, um sich im Rahmen der BürgerInnenversammlung über sozial gerechte Klimaschutzmaßnahmen zu informieren und in den Austausch mit ExpertInnen zu treten. Auftakt für eine Reihe von Versammlungen war im Oktober 2019. Die letzte Sitzung wurde am Wochenende vom 19. bis 21. Juni durchgeführt. Die Bürgerinnen und Bürger stimmten an diesem Wochenende über ihre zentralen Empfehlungen ab. Fast alle der 150 Vorschläge wurden von den Teilnehmenden im Plenum beschlossen, darunter viele mit einer Mehrheit von mehr als 90 %. Zu den beschlossenen Maßnahmen zählen zum Beispiel eine Absenkung der geltenden Höchstgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130km/h auf 110km/h, ferner eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Zugtickets und eine massive Investition in den Zugverkehr sowie eine verpflichtende energetische Gesamtsanierung von Gebäuden.
Interessant ist auch die Empfehlung zur Verfassungsänderung: Die Teilnehmenden sprachen sich für die Integration des Kampfes gegen den Klimawandel in die Verfassung sowie die Einführung des Tatbestandes des „crime d’écocide“ (dt.: „Umweltverbrechen“) aus. Hier wird der Wille der Bürgerinnen und Bürger deutlich, ihre klimapolitischen Bestrebungen auch gegen zukünftige politische Entscheidungen abzusichern.
Tatsächliche Einflussmöglichkeiten oder bloßes Legitimierungsinstrument?
Nach Ausarbeitung der Empfehlungen durch die „Convention citoyenne pour le climat“ stellt sich jedoch die Frage nach den Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben. Handelt es sich wie bei der „Grand débat national“ um ein bloßes Legitimierungsinstrument der krisengebeutelten Regierung unter Macron oder kann sich die BürgerInnenversammlung als wirksames partizipatives Instrument zur sozial-ökologischen Transformation herausstellen?
Kritik übt bspw. der Anwalt für Umweltrecht, Arnaud Gossement, hinsichtlich der Methodik der BürgerInnenversammlung. So lautet ein Prinzip der Arhaus-Konvention zur Öffentlichkeitsbeteiligung in Umweltangelegenheiten, dass die Anzahl der Beteiligten nicht begrenzt werden dürfe. Die Convention citoyenne mit ihrer Auswahl von 150 Bürgerinnen und Bürgern hat jedoch zwangsläufig einen exklusiven Charakter. Darüber hinaus wird kritisiert, dass der Prozess der „zufälligen“ Auswahl nicht transparent und die Zuständigkeit einer MediatorIn nicht klar präzisiert sei. Außerdem werden die Objektivität und die Qualität der an die Teilnehmenden ausgeteilten Informationsdokumente in Frage gestellt. Somit sind einige prozedurale Mängel am Partizipationsverfahren zu erkennen.
Immerhin hatte sich Macron dazu verpflichtet, die ausgearbeiteten Empfehlungen der BürgerInnenversammlung entweder direkt als Dekret umzusetzen, oder aber der Gesamtbevölkerung als Referendum oder dem Parlament als Gesetzesvorschlag vorzulegen.
Die inhaltlichen Bewertungen der Versammlung aus dem französischen Parteienspektrum fallen unterschiedlich aus. Zwar unterstützt Europe Ecologie Les Verts (EELV) die Gesamtheit der legislativen Empfehlungen; die Grünen kritisieren jedoch, dass auf die Forderung nach einer CO2-Steuer verzichtet wird. Eine Rückkehr zur Besteuerung auf Kohlenstoff hätte die Chance gehabt, sozialverträglich umgedacht zu werden, etwa im Rahmen von Ausgleichszahlungen für wirtschaftlich schwächer gestellte Haushalte. Darüber hinaus kritisieren die Grünen, dass die nukleare Frage keinen Eingang in die Vorschläge fand.
Fazit
Es bleibt abzuwarten, in welcher Fassung die Maßnahmen als Gesetze verabschiedet werden – oder es aber zu einer Verwässerung der Vorschläge kommt.
Insgesamt statuiert die französische BürgerInnenversammlung trotz prozeduraler Mängel und unsicheren Zukunftsaussichten ein Exempel in der europäischen Klimapolitik. Eins steht fest: Die ausgewählten Bürgerinnen und Bürger Frankreichs haben sich intensiv mit Klima- und Umweltschutz beschäftigt und sehr ambitionierte Maßnahmen erarbeitet. Damit signalisieren sie ein großes soziales und ökologisches Interesse und Engagement. Auch wenn die Zeit manchmal zu knapp für präzisere Formulierungen war oder die Zukunft der Vorschläge abhängig ist vom guten Willen der Regierung: Die Hoffnung besteht, dass aus dieser Erfahrung eines „Mehr“ an mitgestaltender Demokratie gelernt wird und die Lehren auf andere Fallbeispiele und Länder angewandt werden.
Einen Beitrag zum Thema dieses Blogartikels auf Arte gibt es hier:
https://www.arte.tv/de/videos/096141-000-A/frankreich-buergerkonvent-fuer-das-klima/
Quellen- und Literaturverzeichnis:
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Zur Autorin:
Paula Reichert studiert im Master Internationale und Europäische Governance an der WWU Münster und Sciences Po Lille. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich der Agrarpolitik und Nachhaltigkeit, der Internationalen Politischen Ökonomie sowie der Sozialen Bewegungen.
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