„Engagement für nachhaltiges Gemeinwohl“ – Das klingt nach einem vielversprechenden Lösungsansatz für gegenwärtige sozial-ökologische Krisen, die sich gebündelt auch als Nachhaltigkeits- oder Klimakrise beschreiben lassen. Denn das Gemeinwohl ist eine zentrale Kategorie politischen Entscheidens sowie zivilgesellschaftlicher Verantwortung und es gibt gute Gründe dafür, dass das Gemeinwohl nicht mehr ohne eine nachhaltige Entwicklung gedacht werden kann.
Was ist „das Gemeinwohl“?
Gemeinwohl ist eine zentrale Kategorie politischen Entscheidens und Handelns. Traditionell ist die Förderung des Gemeinwohls Aufgabe des Staates. Immer stärker wird aber auch der Zivilgesellschaft Verantwortung dafür zugewiesen, das Gemeinwohl zu fördern und den Staat in seinen Aufgaben zu entlasten. Die Erwartung an und Bedeutung von Engagement und Beteiligung nehmen zu.
Was genau „das Gemeinwohl“ ist, wird dabei vielfach unterschiedlich ausgelegt und verstanden. Das ist legitim und notwendig, insofern der jeweilige Wille der einzelnen BürgerInnen in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung nicht einfach übergangen werden kann – insbesondere nicht bei der Definition des Gemeinwohls. Dass das Gemeinwohl sozial konstruiert ist, führt aber auch zu einer strukturellen Missbrauchsanfälligkeit, die sich in der teils schwierigen Geschichte des Gemeinwohl-Begriffs zeigt: Extrembeispiele sind faschistische Systeme, die subjektive Rechte Einzelner im Namen des Gemeinwohls missachtet haben und missachten (Hofmann 2002). Auch in demokratischen Systemen wird jedoch das Gemeinwohl durch verschiedenste Akteure vereinnahmt, um Maßnahmen und Einstellungen zu rechtfertigen, die im Grunde auf Eigeninteressen beruhen, d.h. egoistisch motiviert sind (u.a. Meynhardt 2018; Blum und Meier 2019). Genau darin besteht etwa die Strategie populistischer Bewegungen, die beanspruchen, „die wahre Stimme des Volkes“ zu sein.
Notwendige Grenzziehungen: Kein Gemeinwohl ohne Nachhaltige Entwicklung
Es zeigt sich: Was legitimerweise als das Gemeinwohl verstanden werden kann, unterliegt gewissen Grenzen bzw. Minimalanforderungen, die nicht hintergehbar sind (Blum 2020). Es gibt gute Gründe dafür, eine solche Grenze der legitimen Bestimmung des Gemeinwohls auch dort zu ziehen, wo eine nachhaltige Entwicklung verhindert und gestört wird. Denn die Nachhaltigkeitskrise ist in so vielfältiger Hinsicht global, dass wir ihre Rolle und die Verantwortung, mit der sie uns konfrontiert, in unserer Lebenswirklichkeit nicht ignorieren können. Ihre dramatischen ökologischen und sozialen Folgen machen deutlich, dass ein ‚gutes Leben‘ ohne eine nachhaltige Entwicklung nicht möglich ist. Man könnte auch sagen: Gemeinwohl kann es letztlich nicht ohne die Bekämpfung der Nachhaltigkeits- bzw. Klimakrise geben. Konkret heißt das, dass die Förderung des Gemeinwohls die Grundbedürfnisse aller heute und in Zukunft lebenden Menschen und deren ökologische Grundlagen nicht gefährden darf und damit die Interessen künftiger Generationen und anderer globaler Bevölkerungsgruppen berücksichtigen muss. Diesen Ansprüchen liegt ein Nachhaltigkeitsverständnis zugrunde, das unter den Gesichtspunkten der intra- und intergenerationellen Gerechtigkeit die nachhaltige Befriedigung von Bedürfnissen unter Einhaltung der planetaren Grenzen fordert (UN 1987; Rockström et al. 2009.
Vielleicht kann es gelingen, der Bekämpfung der Nachhaltigkeitskrise mehr Nachdruck und Durchschlagskraft zu verleihen, wenn der geschilderte Zusammenhang zwischen einer Nachhaltigen Entwicklung und dem Gemeinwohl stärker in den Vordergrund tritt und sichtbarer wird. Das gilt zumindest angesichts der Erwartung, dass jeder und jedem als Teil des betreffenden Gemeinwesens in irgendeiner Form an der Förderung des Gemeinwohls gelegen sein muss.
Warum das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Gemeinwohl gleichzeitig spannungsreich ist
Der Politikwissenschaftler Helmut Weidner (2002) stellt diesem Lösungsversuch ein Problem entgegen: Der Gemeinwohlbegriff, so Weidner, ist wesentlich im nationalstaatlichen Kontext verankert, im ‚Hier und Jetzt‘ national begrenzter Gesellschaften; der Gemeinsinn ihrer Mitglieder beziehe sich im Kern auf die Personen innerhalb des Gemeinwesens und auf die naheliegende Zukunft. Und selbst die Rede vom Gemeinsinn innerhalb einzelner Staaten erscheint zu weit gegriffen, wenn man auf die gesellschaftlichen Spaltungen schaut, die in verschiedenen Ländern zu Tage treten. Die Dimensionen des ‚Dort und Später‘ des Nachhaltigkeitsbegriffs stünden in unauflösbarer Spannung dazu. Das Gemeinwohl erscheint damit als sehr exklusives Konzept.
Wenn Weidner recht hat und das Gemeinwohlkonzept blind ist für das Wohl künftiger (‚später‘) Generationen und woanders lebender Gesellschaften (‚dort‘), ist es, v.a. aus moralischer Sicht, noch notwendiger als zuvor, den Anspruch einer nachhaltigen Entwicklung in das Ziel der Förderung des Gemeinwohls zu integrieren.
Welche Schlüsselrolle das Thema „Inklusion“ spielen kann
Die konsequente Berücksichtigung der Bedürfnisse und Interessen anderer globaler Bevölkerungsgruppen und künftiger Generationen im Zuge gemeinwohlorientierten gesellschaftlichen und politischen Handelns und Entscheidens ist allerdings eine große Herausforderung. Schon innerhalb von Gesellschaften leben Gruppen, die – wie oben angedeutet – strukturell benachteiligt sind und deren Interessen weniger stark berücksichtigt werden als die Interessen z.B. bildungs- und einkommensstärkerer Gruppen. Sebastian Bödeker bringt dieses Problem auf den Punkt: „Weite Teile der demokratischen Bürgergesellschaft sind heute eine Veranstaltung gut gebildeter, relativ einkommensstarker Bevölkerungsschichten, deren Interessen sich in der Regel erheblich von denen ärmerer Schichten unterscheiden […] Die Inklusion des unteren Drittels der Gesellschaft wird deshalb zur wichtigsten politischen Herausforderung der nächsten Jahrzehnte gehören“ (Bödeker 2014).
Wird der Zivilgesellschaft eine besondere Verantwortung für die Förderung des Gemeinwohls zugeschrieben, müssen diese Ungleichheiten besonders in den Blick genommen werden. Wenn Formen zivilgesellschaftlichen Engagements und der politischen Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern keine umfassende Teilhabe ermöglichen, laufen sie Gefahr, Ungleichheiten zu reproduzieren, anstatt das Gemeinwohl zu fördern. Auch mit Blick auf andere globale Bevölkerungsgruppen und künftige Generationen müssen Lösungen gefunden werden, ihre Interessen und Bedürfnisse systematisch in zivilgesellschaftliches Engagement und Beteiligung einzubinden. Das Thema der Inklusion erhält damit eine Schlüsselrolle in der Förderung eines „nachhaltigen Gemeinwohls“.
Literatur:
Blum, Ch. (2020). Hybride Gemeinwohlkonzeptionen. In: Ch. Hiebaum (Hrsg.). Handbuch Gemeinwohl. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Blum, Ch. und Meier, D. (2019). Macht und Gemeinwohl. In: GWP, 68(3), 391-399.
Bödeker, S. (2014). Die ungleiche Bürgergesellschaft – Warum soziale Ungleichheit zum Problem für die Demokratie wird. Online: https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/189941/die-ungleiche-buergergesellschaft?p=0 (18.06.2020).
Hofmann, H. (2002). Verfassungsrechtliche Annäherungen an den Begriff des Gemeinwohls. In: Münkler, H. und Fischer, F. (Hrsg.). Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht. Konkretisierung und Realisierung öffentlicher Interessen (Forschungsberichte der Interdisziplinären Arbeitsgruppe „Gemeinwohl und Gemeinsinn“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 3). Berlin: De Gruyter, 25-41.
Meynhardt, T. (2018). Der GemeinwohlAtlas: Die Vermessung des Gemeinwohls. In: Flick, C. M. (Hrsg.). Das Gemeinwohl im 21. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein Verlag, 143-158.
Rockström, J. et al. (2009). Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space for Humanity. In: Ecology and Society, 14(2), 32-64.
United Nations (1987). Report oft he World Commission on Environment and Development. Our Common Future. Oxford: Oxford University Press. Online: https://sustainabledevelopment.un.org/content/documents/5987our-common-future.pdf [07.09.2020].
Weidner, H. (2002). Gemeinwohl und Nachhaltigkeit – ein prekäres Verhältnis (Discussion Paper FS II 02-303). Berlin: WZB.
Zu der Autorin:
Die Autorin dieses Blogbeitrags, Lena Siepker MSc, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung der WWU Münster. Der Beitrag ist im Rahmen des Verbundprojektes „ENGAGE – Engagement für nachhaltiges Gemeinwohl“ verfasst worden, das unter der Leitung von Prof’in Doris Fuchs, Dr’in Corinna Fischer und Dr. Florian Kern an der WWU Münster, dem Öko-Institut e.V. und dem Institut für ökologische Wirtschaftsforschung durchgeführt wird. Das Projekt ENGAGE wird durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01UG1911 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt des Artikels liegt bei der Autorin.
Nähere Informationen zum Projekt finden sie hier [https://www.uni-muenster.de/Nachhaltigkeit/engage/index.html].
Nachweis Titelbild: © Pixabay
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[…] Beteiligung und Engagement für ein nachhaltiges Gemeinwohl – je mehr, desto besser?Engagement für nachhaltiges Gemeinwohl: Echte Chance oder Utopie im Kampf gegen soziale und ökolog…Das ENGAGE-Projekt setzt sich mit dem Zusammenhang von Engagement bzw. Beteiligung und […]
[…] für die Organisation deliberativer Bürger*innenbeteiligung, von Lena Siepker (2020) in einem vorherigen Blogeintrag ausführlich beschrieben, knüpft der vorliegende Beitrag an. Entlang von drei von uns idealtypisch […]