Was ist eigentlich „Lebensqualität“ und wie lässt sie sich messen?

Doris Fuchs & Pia Mamut.

Mit diesem Beitrag veröffentlicht das Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung (ZIN) den 100. Blogartikel seit Entstehung seines Blogs „Nach(haltig)gedacht!“ im Dezember 2017. Wir möchten diesen Anlass nutzen, um uns noch einmal mit einer grundlegenden Frage zu beschäftigen: Was ist eigentlich Lebensqualität und wie misst man sie?

Dabei stützen wir uns auf Gedanken und Forschungsergebnisse, die Mit-Autorin Doris Fuchs gemeinsam mit anderen WissenschaftlerInnen ausgearbeitet hat:

Messen was [nicht] zählt?

Was wir messen, beeinflusst was wir sehen bzw. unsere Deutung der Realität – etwa, ob wir zu dem Schluss kommen, dass es den Menschen und der Umwelt in einer Gesellschaft gut geht. Und dies beeinflusst, welche Ziele und Lösungspfade Politik und Öffentlichkeit für besonders wichtig halten und schließlich auch verfolgen. Im Hinblick auf ein gutes Leben für alle heute und in Zukunft bedeutet dies also nichts Geringeres, als zu entscheiden welche Weichenstellungen wir in einer Gesellschaft für die Zukunft vornehmen. Es liegt deshalb auf der Hand, dass es mit Blick auf das Messen von Lebensqualität in einer Gesellschaft bzw. in einem Land entscheidend ist, wie gemessen wird. Schauen wir uns hauptsächlich wirtschaftliche, soziale, ökologische, politische oder andere Kriterien an? Oder eine Auswahl von ihnen? Und kommunizieren sie auch, was wirklich wichtig ist? Je nachdem welchen Kriterien wir Vorrang geben, verändert sich unser Blick auf die Realität. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) verdeutlicht als prominentes Messinstrument sehr gut, welche Auswirkungen eine solche Priorisierung hat (hier mehr zu den Auswirkungen des BIP). 

Eine möglichst umfassende „Brille“ für die Betrachtung der Lebensqualität

Um alle wichtigen Kriterien der „Lebensqualität“ zu erfassen, sollte ihr ein möglichst umfassendes Verständnis zugrunde gelegt werden. Dieses findet sich unserer Meinung nach, wenn man den einschlägigen sozialwissenschaftlichen Debatten folgt, nur bei gleichzeitiger Einbeziehung zweier zentraler Bereiche: dem Bereich Well-Being (deutsch: Wohlergehen, Wohlbefinden) sowie dem Bereich einer Nachhaltigen Entwicklung. Für den Bereich Well-Being identifiziert die Wissenschaft dabei verschiedene Voraussetzungen eines guten menschlichen Lebens: soziale Voraussetzungen (z. B. soziale Absicherung, Bildung, Gesundheit…), politische Voraussetzungen (z. B. Gewährung von bürgerlichen Rechten und Freiheiten, Teilhabe, Rechtsstaatlichkeit, eine effektive Regierung…) und wirtschaftliche Voraussetzungen (z. B. Einkommen, nicht marktbasierte Produktion, Größe der informellen Wirtschaft…). Auch ökologische Voraussetzungen, wie Zugang zu sauberem Wasser oder die Qualität der Luft zählen hier dazu. Die Perspektive der Nachhaltige Entwicklung erlaubt es wiederum Aspekte eines guten Lebens näher in den Blick zu nehmen, die über die Grenzen einzelner Gesellschaften hinausgehen. So fragt sie etwa wie fair Einkommen oder Ressourcen und ihre Nutzung über Ländergrenzen hinweg verteilt sind und wie der ökologische Fußabdruck einer Gesellschaft sich zu den planetaren Grenzen verhält.

Wie gut sind existierende Methoden zur Messung von „Lebensqualität“?  

Eine Reihe von Indikatorensets widmet sich bereits auf unterschiedliche Weise dem übergeordneten Thema der Lebensqualität. Zu ihnen zählen: der Bertelsmann Transformation Index (BTI), der Better Life Index (BLI), der Environmental Performance Index (EPI), Genuine Savings (GS), der Happy Planet Index (HPI), der Human Development Index (HDI), der Ibrahim Index of African Governance (IIAG), der Inclusive Wealth Index (IWI) und der Sustainable Society Index (SSI). Bei näherer Betrachtung – (s. Fuchs et al. 2020) – zeigt sich, dass die allermeisten Indikatorensets zum einen nur Teilaspekte einer „Lebensqualität“ messen und zum anderen  wichtige Zielkonflikte zwischen den Teilbereichen, insbesondere zwischen Well-Being und Nachhaltigkeit, verdecken.

Blinde Flecken: Nur Teilaspekte der „Lebensqualität“ werden gemessen

Zunächst weisen diese Indikatorensets blinde Flecken in Bereichen auf, die eigentlich wegweisende Informationen für Politikgestaltung und Bürgerinnen und Bürger beinhalten. Von den oben genannten Indikatorensets messen zwei (HDI und BTI) nicht den wichtigen Bereich einer nachhaltigen Entwicklung. Der Environmental Performance Index misst wiederum nicht den wichtigen Bereich des Well-Being. Nur wenige Indikatorensets (SSI, BTI, BLI, und IIAG) widmen sich den politischen Voraussetzungen von Well-Being. Ebenso werden wichtige Aspekte der wirtschaftlichen Voraussetzungen von Well-Being vernachlässigt – etwa nicht marktbasierte Beiträge zu Lebensqualität und die informelle Wirtschaft. Übrigens: Nur ein Indikatorenset, der Sustainable Society Index, deckt beide zentralen Bereiche der Lebensqualität ab – dazu unten mehr.

Verdeckte Zielkonflikte: Spannungsverhältnisse zwischen den Teilbereichen bleiben unsichtbar

Des Weiteren können die Messergebnisse der neun Indikatorensets keinen Zusammenhang zwischen erfolgreichen Entwicklungspfaden in Well-Being und Nachhaltigkeit aufzeigen. Vielmehr zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass diese Bereiche meist zueinander in Konflikt stehen: Länder, deren Einwohnerinnen und Einwohnern es in vielerlei Hinsicht „gut geht“, verfügen oft über eine schlechten (d.h. viel zu großen) „Fußabdruck“ im Bereich der nachhaltigen Nutzung von natürlichen Ressourcen. Umgekehrt zeigt sich, dass Länder, deren Bevölkerung in Armut lebt, zwar eine bessere Bilanz bei der Umwelt- und Ressourcenbeanspruchung haben, aber aufgrund der in der Bevölkerung herrschenden Armut natürlich keine Zielperspektive aufzeigen können.

Der Sustainable Development Index, eine gute Richtung?

Der Sustainable Development Index (SSI), den wir oben bereits erwähnt haben, fällt positiv im Vergleich mit den anderen Indikatorensets auf: Zum einen berücksichtigt der SSI beide Bereiche der Lebensqualität (Well-Being und Nachhaltige Entwicklung) – verkörpert also eine recht umfassende „Brille“ auf die Lebensqualität einer Gesellschaft. Zum anderen behandelt er die beiden übergeordneten Bereiche separat voneinander, sodass die Zielkonflikte zwischen ihnen sichtbar und damit kommunizierbar werden. Wir sind der Meinung, dass dieses Vorgehen viele blinde Flecken anderer Indikatorensets erhellen würde und empfehlen daher: „Gute“ Indikatorensets sollten in beiden übergeordneten Bereichen der Lebensqualität relevante Kriterien anwenden, diese jedoch nicht in einen „Datentopf“ werfen. Denn dadurch werden ansonsten wichtige Zielkonflikte verdeckt und können so auch nicht bei der Politikgestaltung berücksichtigt werden. Gleichzeitig sollten diejenigen Länder genauer untersucht werden, die aus dem oben beschriebenen Muster von Zielkonflikten herausfallen und gute Bedingungen, bzw. Entwicklungen sowohl für die Menschen als auch für die Schonung natürlicher Ressourcen aufweisen.

Fazit & Ausblick

Wir möchten zum Abschluss betonen, dass einseitig ökonomische „Messinstrumente“ wie das BIP ungeeignet sind, die Lebensqualität in einem Land bzw. in einer Gesellschaft umfassend abzubilden, da sie wichtigen sozialen, politischen, ökologischen oder auch wirtschaftlichen Kriterien nicht gerecht werden. Ausblickend sei angemerkt: Die Weiterentwicklung von Indikatorensets sollte in Zukunft auch stärker die strukturelle Ungleichheit und damit verbundene Dynamiken zwischen Ländern in den Blick nehmen. Hier braucht es dringend ein Messinstrument, das die Verteilung von Einkommen oder die Beanspruchung von natürlichen Ressourcen im Hinblick auf den Globalen Norden und den Globalen Süden sichtbar macht und zueinander in Bezug setzt. Denn diesen wichtigen Aspekt einer globalen nachhaltigen Entwicklung oder eines guten Lebens für alle Menschen auf der ganzen Welt vermögen länderspezifische Indikatorensets bislang nicht abzubilden.

Zu den Autorinnen:

Prof’in Doris Fuchs ist Inhaberin des Lehrstuhls für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklung sowie Sprecherin des ZIN. Sie ist Ko-Autorin der Publikation „Which Way forward in Measuring Quality of Life“, die diesem Blogartikel zugrunde liegt.

Pia Mamut ist Mitarbeiterin am ZIN und am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Nachhaltige Entwicklungen. Sie forscht zum Thema Suffizienz und zu ihrer Rolle in Diskursen um Nachhaltigkeit und einen Nachhaltigen Konsum.

Quellen

Fuchs, D., Schlipphak, B., Treib, O., Long, L. A. N., & Lederer, M. (2020). Which Way Forward in Measuring the Quality of Life? A Critical Analysis of Sustainability and Well-Being Indicator Sets. Global Environmental Politics, 20(2), 12-36.

Zum Weiterlesen

Ein weiterer Artikel dieses Blogs widmet sich dem übergeordneten Thema der Lebensqualität und legt dabei einen Fokus auf das BIP:

Wohlstand neu messen! Alternativen zum BIP, ZIN-Blogartikel von Matthias Friedrich: http://nach-haltig-gedacht.de/2018/10/10/wohlstand-neu-messen-alternativen-zum-bip/

Bildquelle: Pixabay