Corona angemessenen bewältigen – Plädoyer für eine nachhaltige ethische Perspektive

Michael Quante

Die Covid-Pandemie ist seit mehr als einem Jahr unser ständiger Begleiter. Sie betrifft uns alle auf vielfache, aber auch sehr unterschiedliche Weise. Die gesellschaftliche Debatte ist entsprechend vielstimmig. Häufig ist sie von Emotionen geprägt; fast immer sind die Diskussionsbeiträge ethisch imprägniert. Ethische Einstellungen decken ein weites Spektrum ab. Sie reichen von emotionalen Reaktionen (z. B. der Empörung) über die Bewertung einzelner Handlungen oder spezifischer Maßnahmen bis zur Formulierung genereller ethischer Prinzipien (beispielsweise der Annahme, dass Gesundheitsschutz gegenüber individuellen Freiheitsrechten vorrangig sein soll). Die ethische Rahmung bleibt zumeist im Hintergrund; gelegentlich bricht sie sich in ethischen Forderungen unmittelbar Bahn. Die Lage ist bis auf weiteres unübersichtlich und widersprüchlich; unsere gesellschaftliche Debatte fügt sich in dieses Gesamtbild nahtlos ein.

Zum Glück haben wir in Deutschland die Möglichkeit, uns als Bürgerinnen und Bürger an der gesellschaftlichen Debatte in demokratischen Prozessen frei zu beteiligen. Das ist Recht und Verpflichtung zugleich. Es setzt die Bereitschaft und die Fähigkeit voraus, eine komplexe ethische Debatte mit rationalen Mitteln zu führen. Einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse sowie alle relevanten Güter, Normen und Werte müssen einbezogen werden. Die ethische Diskussion muss sich am Kriterium der Nachhaltigkeit orientieren. Die langfristigen und globalen Auswirkungen der Pandemie und unserer Handlungen sind gegen kurzfristige und lokale Effekte abzuwägen. Dabei müssen die Ansprüche aller Betroffen berücksichtigt und die entstehenden Risiken gerecht verteilt werden. Die ethische Bewertung muss die jeweiligen Kontexte beachten. Weder abstrakte Prinzipien noch alles dominierende Werte werden uns helfen, die Pandemie ethisch angemessen zu bewältigen. In einer demokratisch verfassen Gesellschaft erfordert diese Perspektive einen Prozess der transparenten Abwägung und der partizipativen Aushandlung von Entscheidungen.

Die Aufgabe der philosophischen Ethik

Die philosophische Ethik kann dabei helfen, unverzichtbare Voraussetzungen für eine rationale, d.h. eine mit Argumenten und nachvollziehbaren Begründungen geführte Diskussion zu schaffen, indem sie Begriffe klärt, Argumentationsebenen und –ziele unterscheidet sowie die ethische Komplexität der jeweiligen Problemstellung sichtbar macht. Damit fordert sie zum einen die Bereitschaft ein, in der gesellschaftlichen Debatte die eigene ethische Position zu begründen und mit Argumenten um gute Antworten zu streiten. Ohne diese Tugend ist ein demokratisches Zusammenleben auf Dauer nicht möglich. Zumindest nicht in einer pluralen, die Freiheit der Einzelnen respektierenden und absichernden Gesellschaft.

Zum anderen eröffnet die philosophische Ethik die Chance, ethisch angemessene Optionen zu identifizieren und ethisch vertretbare Entscheidungen zu treffen. Sie fordert uns dazu auf, immer auch die Perspektive der anderen einzunehmen. Es ist legitim, die eigene Betroffenheit in der Debatte zur Geltung zu bringen. Dies gilt vor allem dann, wenn diese Perspektive bisher unzureichend berücksichtigt wurde. Aber zugleich verlangt die ethische Perspektive von uns, alle berechtigten Ansprüche angemessen zu berücksichtigen.

Selbstverständlich ist es zu begrüßen, dass Ethikkommissionen oder Ethikräte in politische Beratungen und Entscheidungsprozesse eingebunden sind. Die Aufforderung zur eigenen ethischen Urteilsbildung richtet sich trotzdem weiterhin an uns alle.

Corona als globales Geschehen

Nach mehr als einem Jahr ist unbestreitbar: Die Covid-Pandemie stellt weder ein lokales Ereignis dar, noch lässt sie sich auf ein rein medizinisches oder nur die Gesundheit betreffendes Geschehen reduzieren. Offensichtlich ist sie ein globales, im räumlichen Sinne weltweites Geschehen. Zugleich wird sie wegen langfristiger Folgen die Lebenschancen zukünftiger Generationen betreffen. Die Pandemie ist auch zeitlich ein globales Geschehen. Die Auswirkungen der Pandemie sind vielfältig und die Eingriffstiefe variiert erheblich. Dies gilt für jedes betroffene Individuum, für einzelne Gesellschaften und die Weltbevölkerung insgesamt. Eine nachhaltig ausgerichtete Antwort auf die Pandemie muss sich an diesen drei Gesichtspunkten (räumliche und zeitliche Globalität; Variabilität der Eingriffstiefe ihrer Effekte) orientieren. Außerdem müssen wir nicht nur die Effekte und Folgen des Pandemiegeschehens differenziert erfassen, sondern auch die Effekte und Folgen aller Maßnahmen, die wir im Zuge der Bekämpfung der Pandemie ergreifen. Aus ethischer Sicht greifen beide ineinander: Unsere Maßnahmen gegen die Pandemie dienen dem Schutz, beispielsweise besonders gefährdeter Individuen oder Gruppen. Zugleich stellen sie eine absichtliche Verteilung von Risiken dar, die sich aus den Maßnahmen ergeben (dies gilt auch für unsere Entscheidung, Maßnahmen nicht zu verabschieden und damit mögliche Risikoverteilungen nicht vorzunehmen). Angesichts knapper Ressourcen und der Unmöglichkeit, alle Gefahren von allen Betroffenen abzuwenden, geht es aus ethischer Sicht um die ethisch vertretbare Verteilung von Risiken.

Die Betroffenen der Pandemie

Wer aber ist und welche Risiken sind als relevant zu berücksichtigen? Im ethischen Sinne gehören dazu alle Individuen, deren berechtigte Ansprüche von der Pandemie bzw. unseren Maßnahmen direkt oder indirekt betroffen sind. Dabei müssen wir unmittelbare Auswirkungen der Infektion und deren Effekte von langfristigen Folgen sowie lokale von globalen Effekten unterscheiden. Gelegentlich wird von primären und sekundären Opfern der Pandemie gesprochen; die Redewendung „im Zusammenhang mit Corona Verstorbene“ weist ebenfalls auf die Schwierigkeit hin, hier klare Grenzen zu ziehen. Gegen die Unterscheidung primär vs. sekundär spricht, dass mit ihr eine nicht begründbare ethische Gewichtung nahegelegt wird. Warum das Versterben an dem Virus ethisch gravierender sein soll als der Tod durch häusliche Gewalt, dessen Wahrscheinlichkeit durch diverse Maßnahmen steigt, ist nicht ersichtlich. Wir sollten besser von direkt und indirekt betroffenen Menschen sprechen.

Durch aktuelle Entscheidungen bürden wir zukünftigen Generationen Lasten auf. Die Ansprüche dieser indirekt betroffenen Gruppe sind zu berücksichtigen. Gleiches gilt mit Blick auf die räumliche Dimension: Wenn wir Grenzen schließen oder Reiseverbote aussprechen, sind wir als Bürgerinnen und Bürger direkt, Menschen, die in ihren Ländern vom Tourismus leben, indirekt betroffen. Für manche Staaten ergeben sich hieraus gesamtgesellschaftliche Probleme, deren Effekte von ökonomischen Krisen bis zur politischen Destabilisierung reichen können. In Gestalt von Flüchtlingsströmen werden uns die Effekte dieser Effekte in nicht allzu ferner Zukunft wieder erreichen.

Neben dem Risiko des Todes sind auch langfristige gesundheitliche Einschränkungen zu beachten. Es wäre ethisch falsch, die Reduktion der Todeszahlen allein als Argument für Lockerungen zu verwenden, ohne gesundheitliche Schäden zu berücksichtigen, die durch steigende Infektionszahlen entstehen.

Auch die zu berücksichtigenden ethischen Werte und Normen sowie die außermoralischen Güter (wie etwa individueller Wohlstand oder die Stabilität sozialer Institutionen) sind vielfältig. In unserer Gesellschaft ist weder die Vermeidung des Todes noch die Gesundheit ein absolut vorrangiger Wert. Genauso wenig ist die Freiheit der individuellen Lebensführung eine alles andere überragende Norm. Es hängt immer vom konkreten Handlungskontext ab, wie die ethischen Gesichtspunkte gegeneinander zu gewichten sind. Dass dabei die unterschiedlichen Risiken gerecht verteilt werden, muss ebenfalls berücksichtigt werden. Schließlich darf keine Gruppe von Betroffenen übersehen werden. Vielmehr ist die Begründungspflicht gerade denen gegenüber am Größten, denen die am tiefsten Eingriffe oder die größten Risiken zugemutet werden. Dabei ist es irrelevant, ob es sich um räumlich oder zeitlich weiter entfernte Gruppen von Betroffenen handelt. Wie der knappe Impfstoff gerecht verteilt wird, ist keine nationale Frage, sondern bezieht in der Pandemie die Menschen aller Länder ein. Die ökonomischen Kosten unserer Maßnahmen ereilen nicht nur die direkt von ihnen betroffenen Gruppen, sie werden auch die nächsten Generationen in ihren Gestaltungsspielräumen und, gerade in den ärmeren Ländern auf diesem Planeten, in den individuellen Lebenschancen treffen.

Fazit

Wir können der Pandemie nur unter der Perspektive der Nachhaltigkeit ethisch angemessen begegnen: Die berechtigten Ansprüche aller Betroffenen sind zu ermitteln, die jeweils einschlägigen Werte und Normen zu identifizieren sowie die Langzeitfolgen unseres Handelns in den Blick zu nehmen. Wir benötigen nicht nur eine langfristige Lockerungsstrategie für die nächsten Monate, sondern eine nachhaltige ethische Perspektive. Nur so werden wir unserer globalen Verantwortung gerecht werden können. Diese Perspektive einzunehmen fällt in Krisenzeiten schwer, aber ohne sie werden wir die Pandemie nicht bewältigen.

Zum Autor:

Dr. Dres. h.c. Michael Quante ist Professor am Philosophischen Seminar der Universität Münster.

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