Nachhaltige Reifen aus Löwenzahn

Babette Lichtenstein van Lengerich, Christian Schulze Gronover und Dirk Prüfer

Wollen wir 2050 so leben?

Es gibt kaum noch Autos, obwohl wir diese eigentlich längst klimaneutral fahren könnten. Der Grund: Es mangelt an Reifen, weil es an dem für die Reifenproduktion unerlässlichen Naturkautschuk fehlt. Denn die Kautschukbäume auf den Plantagen in Asien sind todkrank und die verbliebenen möchte niemand mehr bewirtschaften; die Flüsse von den im Kautschukanbau verwendeten Pestiziden und Säuren verseucht. Die Regenwälder dort sind abgeholzt. Der Kampf um den schon 2020 von der EU zum strategischen Rohstoff erklärten Naturkautschuk ist voll entbrannt. Der Verlust der individuellen Mobilität für Wirtschaft und Gesellschaft ist ebenfalls dramatisch.

Oder lieber so?

Im Jahr 2050 nutzen wir klimaneutral fahrende Autos für unsere individuelle Mobilität. Auch die Reifen sind technisch besser und umweltfreundlicher als im Jahr 2020. Denn ein neuer Naturkautschuk ermöglicht echten Fortschritt im Reifenbau: bessere Bremseigenschaften – trotzdem optimaler Rollwiderstand – und das bei fairen Kosten. Die Regenwälder und Gewässer in Asien haben sich erholt. Der neue Naturkautschuk wird im großen Stil aus Russischem Löwenzahn gewonnen. Angebaut wird die anspruchslose Pflanze auf Abraumhalden aus dem Tagebau und anderen ertragsschwachen Böden. Wirtschaft, Natur und Gesellschaft sind in guter Balance.

Naturkautschuk – Einer der wichtigsten strategischen Rohstoffe der Welt­

Naturkautschuk ist in Europa seit dem 17. Jahrhundert bekannt. Doch erst mit der Entwicklung des luftgefüllten Reifens wurde er neben Kohle und Stahl zum wichtigsten Industrie-Rohstoff der Welt. Um 1895 wurden die ersten Automobile damit ausgerüstet – der wichtigste Schritt zur Massenmotorisierung war vollzogen. Naturkautschuk begann, die Welt zu erobern. Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich die Plantagen in den Kolonien der europäischen Länder. Brasilien mit seinen riesigen Anbauflächen für den Kautschukbaum Hevea brasiliensis weltweit führend, gefolgt von kleineren Plantagen in Afrika. Schon damals war man sich der wirtschaftlichen Bedeutung des Rohstoffes bewusst: Auf den Export der Samen von Hevea brasiliensis stand in Brasilien die Todesstrafe. Trotzdem gelang es 1876 dem Engländer Sir Henry Wickham, rund 90.000 Samen aus dem Land zu schmuggeln. Die Folge: Billig-Plantagen in Südostasien – der Beginn vom Ende des brasilianischen Monopols.

Verfügte man zu Beginn nur über reine Naturkautschukmischungen, kam 1936 in Deutschland der erste Synthesekautschuk auf den Markt. Aber erst seit den 70er-Jahren wird weltweit mehr Synthese- als Naturkautschuk verarbeitet. Bis heute ist jedoch ein gewisser Anteil an Naturkautschuk unerlässlich für eine gute Funktionalität des Reifens. Denn nur mit Naturkautschuk erhält der Reifen die notwendige Elastizität und das optimale Verhältnis zwischen Rollwiderstand, Bodenhaftung und Stabilität. Zwischen 10 und 40 Prozent des Gesamtgewichtes moderner Hochleistungsreifen bildet daher immer noch das Naturprodukt.

Zur Sicherstellung von individueller Mobilität ist die weltweite Nachfrage nach Reifen hoch, und somit auch der Bedarf an Naturkautschuk. Aktuell werden rund 13,7 Mio. Tonnen Naturkautschuk zu Produkten aller Art verarbeitet. 70 Prozent davon gehen in die Reifenindustrie. Der globale Kautschukmarkt betrug in 2020 ca. 40 Milliarden Dollar und wird bis 2026 auf ca. 69 Milliarden ansteigen. Nicht von ungefähr wurde Naturkautschuk durch die EU erst kürzlich zu einem der wichtigsten strategischen Rohstoffe der industriellen Welt erklärt.

Gewonnen wird der Rohstoff auch heute noch fast ausschließlich aus dem in Brasilien beheimateten Kautschukbaum Hevea brasiliensis. Seine Anbaugebiete finden sich heute vor allem in Thailand, Indonesien und Vietnam, die mit rund 73 Prozent den Hauptanteil des weltweit verarbeiteten Naturkautschuks auf großen Plantagen produzieren. Die Gewinnung von Naturkautschuk konnte zwar bisher kontinuierlich gesteigert werden, sie ist jedoch gesundheitlich und ökologisch hoch bedenklich. Unter teils unzumutbaren Bedingungen und für einen Hungerlohn arbeiten vor allem in Thailand und Indonesien Kleinbäuerinnen und Kleinbauern auf ihren Plantagen, für die wertvoller Regenwald abgeholzt wird. Angebaut wird der Kautschukbaum vorzugsweise in Monokulturen unter hohem Einsatz von Pestiziden, der die Natur zusätzlich belastet. Auch die für die Verfestigung des Saftes verwendeten Säuren gefährden die Umwelt vor Ort.

Die Alternative: Reifen aus Russischem Löwenzahn

Den Prognosen von ExpertInnen zufolge wird es spätestens in den 2030er-Jahren zu einem wirtschaftlichen Engpass in der Verfügbarkeit von Naturkautschuk kommen. Die Erschließung alternativer, wirtschaftlich attraktiver sowie ökologisch und sozial unbedenklicher Quellen für Naturkautschuk ist aus all diesen Gründen unerlässlich. Nur so können wir die für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft essenzielle, individuelle Mobilität langfristig aufrechterhalten.

Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rückte Naturkautschuk aus Löwenzahn ebenfalls aufgrund von Rohstoffmangel in vielen Ländern in den Mittelpunkt des Interesses. Der Erfolg bei der Gewinnung und Nutzung war jedoch mäßig, weshalb sämtliche Arbeiten zeitnah eingestellt wurden. Heute, rund 80 Jahre nach den ersten Versuchen in aller Welt, ist es nun erstmals gelungen, den für den Reifenbau unverzichtbaren Naturkautschuk im industriellen Maßstab auf heimischen Böden zu erzeugen. Möglich wurde das durch ein Zusammenspiel mehrerer Disziplinen: Die wissensbasierte Züchtung hat den Ertrag der Pflanzen erhöht. Die Landwirtschaft hat den Anbau und die Ernte optimiert. IngenieurInnen haben ein neues Extraktionsverfahren entwickelt und ReifenproduzentInnen technisch perfekte Reifen gebaut.  Jüngste Forschungsarbeiten mit Löwenzahn konnten zudem ein langes Geheimnis lüften. So wurden die biologischen Komponenten, die die Einzigartigkeit des Naturkautschuks bestimmen, identi­fiziert und auf Synthesekautschuk übertragen. Das Resultat: 30 Prozent weniger Reifenabrieb bei verbes­sertem Rollwiderstand. Und weitere Anwendungsbereiche werden folgen.

Unser Fazit

Löwenzahn-Naturkautschuk trägt zu einer ökologisch und sozial stabilen Bioökonomie und zur Erreichung mehrerer Ziele der Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen bei. Ein nachhaltig produzierter Reifen mit optimalen Fahreigenschaften ist heute von elementarer Bedeutung für Mensch und Umwelt. Naturkautschuk aus Löwenzahn steht nicht nur für Sicherheit und Hochleistung im Reifen, sondern folglich auch für einen sozialverträglichen, ökologisch bewussten und dennoch wirtschaftlich lukrati­ven Umgang mit diesem Rohstoff in der produzierenden und verarbeitenden Naturkautschukindustrie.

Tipps zum Weiterlesen:

https://www.uni-muenster.de/forschung/zukunftspreis/

Über die AutorInnen:

Babette Lichtenstein van Lengerich ist Biologin und leitet das Medienhaus Münster.

Christian Schulze Gronover ist Molekularbiologe und Forschungsleiter am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie IME.

Dirk Prüfer ist Hochschullehrer für Molekulare Pflanzenbiotechnologie an der Universität Münster.

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