Die Klimakrise im Raum der Schöpfung – ein raumtheoretischer Denkanstoß aus theologischer Sicht

Thomas Hilker

An dieser Stelle möchte ich euch einen raumtheoretischen Denkanstoß in Sachen Klimafolgen aus theologischer Sicht bieten. Klimawandel ist ein Phänomen, dass auf die Macht der Menschheit auf die Natur und in der Natur verweist. Topologisch betrachtet, geht es daher um die Frage, wie Macht und Ohnmacht im Zusammenhang von Kultur und Natur fassbar werden; und wie wir Naturen-Kulturen-Räume denken und schaffen könnten, in denen die Verdrillung jener Mächte und Kräfte, die im Zusammenhang von menschlichem Leben, den nicht-menschlichen Organismen und den geoökologischen Lebensbedingungen (Gletscher, Korallenriffe, Meere, Seen, Wälder, Moore usw.) wirken, am Werk sind.

„Geheimnis des Lebens“

Um solche „Naturen-Kulturen-Räume“ zu erschließen, müssen nicht nur die Wechselwirkungen in den Strukturen von Natur und Kultur erfahrbar werden, sondern auch die Unverfügbarkeit und die Würde der Dinge durch ein Bewusstsein des Dazwischen in den Blick kommen. Und diese Erfahrung des Dazwischen als eines Drittraumes bedarf des (mystischen) Blinzelns in und gegenüber der Welt. Der religiöse Begriff der Schöpfung könnte hier geeignet sein, um das Dazwischen, den Raum zwischen Natur(en) und Kultur(en) zu erschließen und die Dinge in ihrer Besonderheit und mit ihrer Würde, eben als Geschöpfe wahrzunehmen. Schöpfung hat – theologisch gesprochen – mit dem ‚Geheimnis des Lebens‘ zu tun, und d.h. auch mit der Struktur unseres offen auf die Welt gerichteten Bewusstseins. Und wenn dieses Geheimnis des Lebens auch Vertrauen in die Wirklichkeit verheißt, dann kann es schlicht Gott genannt werden. Für das theologische Denken verschärft sich im Angesicht der Klimaerhitzung und deren Folgen die Frage nach einer Konzeption von Schöpfung, die sich zu den ökologischen Feldern und ihren Organismen in Beziehung setzt (Sander, 2019, S. 113): Schöpfung bedeutet nunmehr, die Erde als Ort einer Kosmophanie zu verstehen, als Feld der Menschheit vor Gott; als Raum seiner Schöpfung, in dem das ‚Geheimnis des Lebens‘ sich offenbart.

„Drei Raumdimensionen des Lebens“

Nach Immanuel Kant ist der Raum eine grundlegende Bedingung des Bewusstseins; und die Raumtheorien unserer Zeit (nach Edward Soja u.a.) kennen drei wesentliche Dimensionen des (räumlichen) Daseins, die kurz first space; second space und third space genannt werden: Wir befinden uns als Menschen jede*r für sich und immerzu an einem vorhandenen Platz (first space). Aber wir befinden uns zugleich an Orten (Topoi), die intentionaler Art sind (second space): Bedeutungen, d.h. Überzeugungen, Konzepte, Ideen, Vorstellungen, Einstellungen, Werte, rechtliche und moralische Normen bilden gegenüber dem ersten, bloß vorhandenen Platz einen zweiten Raum. Reale Plätze sind so immer auch Orte, die ideelle Ordnungen repräsentieren und wo Mächte wirken: Wenn wir uns z.B. an einem realen Platz in einer Stadt oder auf einem Gletscher befinden, so stehen wir zugleich in einem diskursiven Weltzusammenhang: Der Ort hat seine ganz materiellen (etwa geologischen, architektonischen, sozialen und ökologischen Eigenschaften); aber er hat etwa auch seine Geschichte, die im Zusammenhang mit der Weltgeschichte steht; an ihm gelten Normen wie z.B. bestimmte Verhaltensweisen, Verkehrsregeln und die Rechtsstaatlichkeit. Der thirdspace ist schließlich ein dunkles und nicht einfach bestimmbares Phänomen, nach dem gesucht und zu dem hin erst Spuren gelesen werden müssen. Es ist ein Raum, wo sich Lebensmöglichkeiten allererst eröffnen und in dem Wechselwirkungen zwischen Kräften, Mächten und Diskursen, ja sogar Zeiten stattfinden. Wo Austausch-, Erzähl- und Sprechweisen, neue Erkenntnisse und Gemeinschaft sich bilden können. Der third space ist kein zu händelnder Raum, sondern ein Raum, wo jemand wagt, sich verorten zu lassen; oder wo sich jemand relativiert und in Beziehung setzt; wo die ‚Raum-Teilnehmer*innen‘ einander dazu bemächtigen und berechtigen, sich auszudrücken und Gründe für Einstellungen und Überzeugungen zu geben oder auch zu fordern. Der third space ist der Raum, in dem die realen Bedingungen und Ordnungen überschritten werden und die Dinge in ihrer Besonderheit erscheinen können. Vom Raum zu sprechen, heißt verstehen zu lernen, dass Räume ‚Lebensräume‘ sind, in denen komplexe Felder und Relationen wirksam sind; Relationen zwischen den Eigenschaften des faktisch Gegebenen, der diskursiven Vermittlung und den Macht- und Kraftfeldern des konkreten Lebens.

Und theologisch betrachtet wäre der Drittraum jener, in dem das ‚Geheimnis des Lebens‘ sich ausdrückt und verstehbar wird, wo – um es mit einem mit einem jüdischen Begriff auszudrücken – ‚Gott einwohnen‘ (Schechina) und die Macht Gottes möglicherweise (!) einfallen kann. Wo Schöpfung zum Raum wird, in dem das ‚Geheimnis des Lebens‘ sich kundtun und etwas ‚Neues‘ erfahren werden kann. Neues Leben, das ist Vertrauen in die Wirklichkeit, welches in diese eingetragen werden kann.

„Die Würde und Heiligkeit der Welt erkunden und dabei Natur einräumen“

Von Schöpfung im Sinne des third space zu sprechen, ist eine theologisch-politische Aussage, weil sie etwas mit „den Machtproblemen in der Natur“ zu tun hat: Mit der Ohnmacht, die Menschen in der Natur erfahren und mit der Macht, die die Menschen als die Beherrschende aller planetarischen Lebensformen auf die Natur ausüben (Sander, 2019, S. 123). Die theologische Rede von Schöpfung muss „Natur einräumen“; d.h., sie muss sich in eine wahrnehmende und teilnehmende Beziehung zu den anderen ‚Wirkwesen‘ setzen, um den Raum zu erschließen, in dem Natur als Schöpfung erfahrbar wird. (Könnt ihr euch an eure erste Wahrnehmung einer Pflanze im Leben erinnern; an eine beindruckende Begegnung mit einem Tier? Welche Landschaftsorte sind für Euch in biographischer Hinsicht wirklich bedeutsam?). In diesem Raum müssen sich ungewöhnliche Erfahrungen mit Natur verarbeiten lassen, die ansonsten unannehmbare Katastrophen darstellen würden. (Wie lassen sich z.B. pandemische Phänomene verarbeiten, ohne das ganze Leben und die Erfahrung von Welt etwa angstbesetzt unter deren Vorzeichen zu stellen? Und wie können wir mit der eigenen Endlichkeit, mit Krankheit und Tod umgehen?) Von Schöpfung zu sprechen, heißt Natur ‚einzuräumen‘, indem man ihr relational begegnet, d.h. ihre Eigenschaften, ihre Leiden (!) erkennt und auch die Kräfte in ihr, die wir als mächtig erfahren. Ein Gletschertor ist z.B. nicht nur einfach ein Begriff, der den Schmelzwasserausfluss eines Gletschers bezeichnet, sondern ist mitunter (unmittelbar erfahrungsgemäß:) eine erhabene Erscheinung – eine tödliche Zone!  Aber zugleich bedeutet Schöpfung auch, von den Menschen und ihren Lebensweisen zu sprechen, die die Naturen-Kulturen-Habitate dieses Planeten bevölkern. Das heißt zugleich die religiöse Topologie der Welt oder die spirituellen Räume des Planeten zu erkunden und konkrete Lebensräume als Schöpfungsräume erfahren zu können, in denen das Geheimnis des Lebens als bejahende Würde der Geschöpflichkeit erfahren werden kann. Schöpfung heißt, Natur und das Dasein in ihr von innen her als Prozess zu verstehen, in dem das Geheimnis des Lebens selbst – gleichsam das ‚Begehren Gottes‘ – dem Leben Raum gibt und dieses zugleich (weil in ihr wirksam) durch Natur eingeräumt wird. Der Zerstörung von Lebensraum könnte dadurch widerstanden werden, dass wir Natur als Heterotopie erschließen, in dem wir unsere Macht über die Natur besser zur Sprache bringen und dann auch unterbrechen können. Wenn Natur durch den Menschen die Augen aufschlägt, dann bedeutet Schöpfung die Würde der Natur, die wir – als Teil von ihr – zur Geltung zu bringen haben. Schöpfung ist ein Verhältnis zur Welt gemäß einem Gedanken von Paul Ricoeur: „Ich drücke mich selbst aus, in dem ich die Welt zum Ausdruck bringe; ich erkunde meine eigene Sakralität [d.h. Würde und Heiligkeit], indem ich die der Welt zu entschlüsseln suche.“ (in: Enzyklika „Laudato´si“ von Papst Franziskus)

Zum Autor: Dr. Thomas Hilker forscht und lehrt als Theologe und Philosoph u.a. zur Bedeutung von Klimawandel aus theologischer und philosophischer Perspektive und zu Fragen topologischer Theologie und zu Räumen der Schöpfungsspiritualität. Er ist wissenschaftlicher Assistent im Bereich der systematischen Theologie und Mitarbeiter am „Ökumenischen Institut“ (KThF), an welchem u.a. zu Fragen ökologischer Schöpfungslehre im ökumenischen (aber auch säkularen und interreligiösen) Kontext geforscht wird.

Quellen:

Günzel, Stephan (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012.

Papst Franziskus I. (2015): Enzyklika Laudato Si‘ über die Sorge für das gemeinsame Haus, hrsg. vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 202, Bonn 2015, Nr. 85, S. 63.

Sander, Hans-Joachim: Glaubensräume, Topologische Dogmatik I, Ostfildern 2019.

Beitragsbild:

Foto vom Morteratsch-Gletscher (Graubünden, Schweiz, 2020, aufgenommen von Herrn Hilker)