Karolin Stevelmans, Niclas Kaehlert und Fynn Schmidt
In Zeiten multipler und zusammenhängender Krisen wird politischen Entscheidungsträger*innen die schwierige Aufgabe zuteil, komplexen Problemlagen mit wirksamen und umsetzbaren Lösungskonzepten zu begegnen. Dabei wird im Kegel der öffentlichen Aufmerksamkeit fortwährend um die „richtigen“ Lösungspfade gerungen. Im Kontext der Demokratiekrise ist ein vielversprechender Weg bereits eingeschlagen worden: Vielerorts werden deliberative Bürger*innenbeteiligungsinstrumente ein- und durchgeführt, sodass bereits von einer „deliberativen Welle“ die Rede ist (OECD 2020).
Die Idee dieser Instrumente ist simpel: Durch den Austausch mit und die Einbindung von Bürger*innen in strukturierte Prozesse der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung sollen demokratisch legitimierte, praktisch umsetzbare und gemeinwohlorientierte politische Lösungen gefunden werden. Das Gemeinwohl kann dabei nicht nur auf die Gemeinschaft vor Ort beschränkt sein, sondern muss auch mit den Bedürfnissen andernorts und zukünftig lebender Menschen im Einklang stehen. Deren Chance auf ein gutes Leben ist schließlich maßgeblich von hier und heute getroffenen Entscheidungen abhängig. Es müssen also Wege gefunden werden, die sog. Global- und Zukunftsperspektiven (GZP), also die Interessen und Bedürfnisse der Globalbevölkerung und zukünftig lebender Generationen, in die Struktur von deliberativen Beteiligungsverfahren einzubinden.
An die hieraus erwachsende Herausforderung für die Organisation deliberativer Bürger*innenbeteiligung, von Lena Siepker (2020) in einem vorherigen Blogeintrag ausführlich beschrieben, knüpft der vorliegende Beitrag an. Entlang von drei von uns idealtypisch gesetzten Phasen deliberativer Beteiligungsverfahren – Themensetzung/Planung, Deliberation/Entscheidungsfindung, Ergebnisverwertung – identifizieren wir Faktoren, die für die Integration von Global- und Zukunftsperspektiven begünstigend oder hemmend wirken. Diese werden beispielhaft mithilfe einer fiktiven Nachbar*inneninitiative aus dem Münsteraner Südviertel, die für ihren Bezirk in einem deliberativen Beteiligungsverfahren ein Mobilitätskonzept entwickeln möchte, veranschaulicht.
GZP-sensible Themensetzung und Planung: Gestaltungsoffen und inklusiv
Bei der Vielzahl vorhandener Verfahren und Methoden im Bereich der Bürger*innenbeteiligung finden sich ganz unterschiedlich ausgestaltete Akteurskonstellationen und Organisationsstrukturen. Dennoch lassen sich einige Knotenpunkte in der Vorbereitungsphase feststellen, an denen die Weichen für ein GZP-sensibles Deliberationsverfahren gestellt werden können.
Bei der Themen- und Schwerpunktsetzung sowie bei der Auswahl und Ausgestaltung der Methode ist eine offene Verfahrensstruktur Grundvoraussetzung für die GZP-Integration. So könnten beispielsweise durch eine flexible und kurzfristige Einbindung und Umsetzung von Gestaltungsvorschlägen aus der Zivilgesellschaft eine fehlende Sensibilisierung für GZP auf Seiten der Organisator*innen kompensiert werden. Ein solcher strikter Bottom-Up-Ansatz bei Themensetzung und Verfahrensgestaltung kann allerdings auch dazu führen, dass die Integration von GZP gänzlich vom Vorwissen eines kleinen Personenkreises der Engagierten abhängt. Insbesondere bei einem Verfahren, das auf niedriger administrativer Ebene organisiert wird, ist dies hinderlich. Im Praxisbeispiel der Nachbar*innen in Münster-Süd heißt das: Sie können die Chance, dass Global- und Zukunftsperspektiven schon im Planungsprozess berücksichtigt werden, erhöhen, indem sie an Organisationen und Behörden mit Erfahrung in der inklusiven Beteiligungsorganisation herantreten.
Die Teilnehmenden werden häufig per Zufallsauswahl angeworben oder anhand von sog. Repräsentationskriterien ausgewählt. Letzteres bedeutet, die ausgewählte Gruppe an Teilnehmenden soll nach vorher definierten Merkmalen (bspw. Alter oder Bildungsstand) möglichst maßstabsgetreu die gesamte Bürger*innenschaft abbilden. Für die Integration von GZP ins Verfahren können die Organisator*innen den Begriff der Bürger*innenschaft und die entsprechenden Auswahlkriterien auf Globalbevölkerung und Zukunftsgenerationen ausweiten und für diese Gruppen eine Interessensvertretung in die Teilnehmer*innenschaft aufnehmen. Bleiben wir bei unserem Beispiel: Die engagierten Nachbar*innen aus dem Südviertel sprechen lokale Vereine und Initiativen an, und bitten um die Abstellung von Personen für ihr Verfahren, die dann wiederum stellvertretend für andernorts und künftig lebende Menschen an der Gestaltung des Mobilitätskonzepts mitwirken. Trotz der hierbei offensichtlichen Unmöglichkeit einer maßstabsgetreuen Abbildung aller Interessen, stehen die Chancen für eine Integration von GZP bei einer Teilnehmendenrekrutierung nach dem reinen Zufallsprinzip hingegen ungleich schlechter: Die Grundgesamtheit ließe sich zwar theoretisch auf andernorts lebende Bürger*innen ausweiten, in der Praxis scheint diese Option jedoch kaum durchführbar.
GZP in Deliberation und Entscheidungsfindung: Perspektivwechsel und wissenschaftliche Rückkopplung
Die Generierung einer Vielfalt von Ideen und Lösungsvorschlägen stellt nicht nur eine Bereicherung im Dialog dar, sie ist auch ein zentrales Moment für die deliberative Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Um hierbei Global- und Zukunftsperspektiven einzubinden, können angeleitete Perspektivwechsel ein sinnvolles Instrument sein: Die Teilnehmenden sollen also verschiedene Sichtweisen außerhalb des eigenen Meinungskosmos einzunehmen. Das sensibilisiert für den Spielraum zur Bedürfnisbefriedigung anderenorts und zukünftig lebender Menschen, der vom eigenen Handeln beeinträchtigt wird. Auf das Beispiel des Beteiligungsverfahren zur Mobilität in Münster-Süd übertragen bedeutet das: Die Organisator*innen möchten die Teilnehmenden verschiedene Blickwinkel auf das Mobilitätsnetz in ihrem Viertel werfen lassen, und wählen dafür die sog. Walt-Disney-Methode. Dabei nehmen die Teilnehmenden eine Abfolge von unterschiedlichen Rollen ein, aus denen sie die Herausforderung eines integrativen Mobilitätskonzepts betrachten. Dies ermöglicht ihnen, sich von gedanklichen Barrieren und Voreingenommenheit zu lösen: Eine zentrale Vorrausetzung, um die Interessen und Bedürfnisse anderswo und zukünftig lebender Menschen wahrzunehmen und in den Lösungsfindungsprozess zu integrieren.
Darüber hinaus verspricht eine entsprechend informierte Moderation eine besonders effiziente Möglichkeit zum Einbezug von Global- und Zukunftsperspektiven. Diese kann die GZP dann durch Impulse in den Deliberationsprozess einbinden, wenn deren Beachtung durch die Teilnehmenden nicht gegeben ist. Diese Maßnahme ist auch deshalb gut geeignet, weil sie relativ geringen organisatorischen Aufwand bedeutet.
In der Durchführung von Beteiligungsverfahren lassen sich auch Aspekte identifizieren, die eine Einbindung der GZP erschweren. So kann z.B. eine mangelnde wissenschaftliche Rückkopplung zu willkürlichen oder durch Fremdinteressen beeinflussten Annahmen führen: Akteur*innen, beispielsweise aus der Parteipolitik, könnten Deliberationsverfahren als eine Bühne der Aufmerksamkeit im Wahlkampf nutzen oder bestimmte Vorhaben nur aufgrund des eigenen Prestiges fördern. Wissenschaftliche Expertise bei der Annäherung an GZP ist also entscheidend für die Erreichung eines gemeinwohlorientieren Verfahrensergebnisses.
Über die Relevanz der Umsetzung GZP-sensibler Politikempfehlungen
Nach der Durchführung des Beteiligungsverfahrens finden die Ergebnisse im besten Fall Eingang in den politischen Prozess. Die Ergebnisverwertung kann, abhängig von der Ebene, auf der das Beteiligungsverfahren durchgeführt wurde, an kommunale oder regionale, mitunter aber auch nationale, supranationale oder nicht-öffentliche Organisationseinheiten herangetragen werden. Den Interessen und Bedürfnissen der außerhalb oder erst künftig in diesen politischen Einheiten lebenden Menschen wird insbesondere dann Rechnung getragen, wenn GZP-informierte Handlungsempfehlungen in tatsächlich implementierte Politiken übersetzt werden. Voraussetzung dafür ist, dass die geplante Ergebnisverwertung bereits vor Durchführung festgelegt und klar kommuniziert wird. Denn mit abnehmender Verbindlichkeit des Deliberationsergebnisses verringert sich entsprechend auch das Vermögen der Methode, GZP in den politischen Prozess einzubinden. Im Optimalfall werden die Beteiligungsinstrumente von vornerein mit delegierten Entscheidungskompetenzen ausgestattet oder sie verfügen über ein der Umsetzung gewidmetes Budget. Die Nachbar*innen aus dem Südviertel in unserem Fallbeispiel sind im Vorhinein an das Planungsamt der Stadt Münster herangetreten, und haben ein kleines Budget für die Einführung von Sofortmaßnahmen ausgehandelt. Zudem fließen die Ergebnisse ihres Beteiligungsverfahrens in den Entwurf eines Modellprojekts, bei dem Lösungen für eine gemeinwohlorientierte Bürger*innenmobilität in ihrem Quartier ausprobiert werden sollen.
Auch wenn die Nähe zum politischen Prozess hier also grundsätzlich als Chance verstanden wird, so muss auf die Gefahr der (partei-)politischen Vereinnahmung hingewiesen werden, die aus ihr erwächst. Wenn die Umsetzung der GZP-sensiblen Politikempfehlung im letzten Schritt vom politischen Willen der Entscheidungsträger*innen abhängig ist, wird dem deliberativen Beteiligungsverfahren letztendlich sein Potenzial entzogen, zu demokratische(re)n Entscheidungen im politischen System beizutragen. Das gilt insbesondere, wenn gar keine konkrete Form der Ergebnisverwertung vorgesehen ist.
Fazit: Ohne GZP kein Gemeinwohl
Die Berücksichtigung der Bedürfnisse der Globalbevölkerung und künftiger Generationen ist eine zentrale Bedingung für das Gelingen nachhaltiger und gemeinwohlorientierter deliberativer Bürger*innenbeteiligung. Die identifizierten Faktoren – offene Verfahrensstruktur, Auswahlkriterien, Perspektivwechsel, Moderation, wissenschaftliche Rückkopplung, Ergebnisverwertung – können den Organisator*innen solcher Verfahren Orientierung bieten, um Global- und Zukunftsperspektiven systematisch in den deliberativen Prozess einzubinden. Angesichts ökologischer, politischer und sozialer Krisen sowie des weltweiten Rückbaus demokratischer Strukturen kann und darf das Potenzial deliberativer Verfahren, rationale, umsetzbare und dem Gemeinwohl verpflichtete Lösungen zu generieren, nicht zugunsten der Befriedigung kurzsichtiger Partialinteressen verschenkt werden.
Literatur:
Merkel, W. (2015). Die Herausforderungen der Demokratie. In W. Merkel (Ed.), Demokratie und Krise (pp. 7–42). Springer Fachmedien Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-05945-3_1
OECD. (2020). Innovative Citizen Participation and New Democratic Institutions: Catching the Deliberative Wave. OECD. https://doi.org/10.1787/339306da-en
Siepker, Lena. (2020, September 15). Engagement für nachhaltiges Gemeinwohl: Echte Chance oder Utopie im Kampf gegen soziale und ökologische Krisen? Nach(haltig)gedacht. http://nach-haltig-gedacht.de/2020/09/15/engagement-fuer- nachhaltiges-gemeinwohl-echte-chance-oder-utopie-im-kampf-gegen-soziale-und- oekologische-krisen/
Stiftung Mitarbeit (o.D.): Die Walt-Disney-Methode. Wegweiser Bürgergesellschaft. https://www.buergergesellschaft.de/mitentscheiden/methoden-verfahren/konflikte- bearbeiten-standpunkte-integrieren/die-walt-disney-methode
Über die Autor*innen:
Karolin Stevelmans, Niclas Kaehlert und Fynn Schmidt studieren an der Universität Münster den Masterstudiengang „Politikwissenschaft: Nachhaltigkeit und Demokratie“. Dieser Blogbeitrag ist im Rahmen eines forschungsorientierten Seminars entstanden.
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