Nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs) mit Reflectories erfahrbar machen – ein Praxisbeispiel

Globale Herausforderungen, wie z.B. eine sich zunehmend vernetzende Weltwirtschaft, die wachsende Belastung der Gewässer durch Plastikmüll oder die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten zum Austausch von Informationen und Wissen, sind durch eine hohe Komplexität gekennzeichnet. Das bedeutet, dass Prozesse und Sachverhalte auf vielfältige Weise miteinander vernetzt, und zukünftige Entwicklungen und Veränderungen nur schwer abzuschätzen sind. Um gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen in einer globalisierten Welt zu begegnen, werden Kompetenzen im Sinne einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (kurz BNE) benötigt (für eine Einführung in die BNEs unseren Blogbeitrag „Bildung für Nachhaltige Entwicklung – eine kleine Zeitreise.“). Zur BNE gehört es z.B., globale Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen sowie Prozesse und Sachverhalte nicht nur aus der eigenen Perspektive zu bewerten, sondern mehrere Zukunftsperspektiven einzubeziehen und eigene Visionen für die Zukunft zu entwickeln. Auch bedarf es der Auseinandersetzung mit individuellen, unterschiedlichen Werte- und Normhorizonten, wie z.B. die individuelle Bedeutung des Umweltschutzes versus des ökonomischen Fortschritts, auf deren Basis oftmals Entscheidungen gefällt werden. Als weiterer Baustein wird das Bewusstsein dafür angesehen, dass es beinahe unmöglich ist, sämtliche Grundlagen von Entscheidungen zu kennen und deren Auswirkungen im Vorfeld in Gänze einzuschätzen. Entsprechend müssen Lernende befähigt werden, Entscheidungen in Unsicherheit zu treffen und diese Unsicherheit aushalten zu können (vgl. UNESCO, 2017; Schrüfer et al., 2019).

Im Jahr 2015 wurden auf dem Gipfel der Vereinten Nationen 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung beschlossen, die sogenannten Sustainable Development Goals (SDGs), die für alle Staaten verpflichtend sind. Dazu gehört z.B. Ernährungssicherheit zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern sowie für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster zu sorgen. Die SDGs sollen bis zum Jahr 2030 umgesetzt werden und haben Eingang in den Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung gefunden, der von der Kultusministerkonferenz und dem Bundeministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erarbeitet wurde und die Implementierung einer Bildung für nachhaltige Entwicklung in die schulische Bildung vorantreiben soll (KMK/BMZ, 2016). Vor diesem Hintergrund wird am Institut für Didaktik der Geographie der Universität Münster der Frage nachgegangen, wie die Entwicklungsziele gewinnbringend in schulische und außerschulische Lernprozesse eingebunden und damit einhergehend entsprechende Kompetenzen gefördert werden können.

Das Projekt „Reflectory“

In Zusammenarbeit mit GeographielehrerInnen und FachwissenschaftlerInnen werden Online-Lernarrangements mit dem Namen „Reflectories“ entwickelt. Hierbei setzt sich das Wort „reflectory“ aus den Begriffen „reflect“ und „(s)tory“ zusammen.

Diese Reflectories thematisieren die SDGs auf vielfältige Weise und übersetzen sie in alltagsnahe, an die Lebenswelt der Lernenden anknüpfende Situationen. Dabei werden komplexe Wechselwirkungen von Prozessen auf verschiedenen Maßstabsebenen (z.B. mit Blick auf den eigenen Wohnort sowie eine entfernte Region) und in Bezug auf die Entwicklungsdimensionen der Nachhaltigkeit berücksichtigt. So werden zum Beispiel in einem Reflectory, das sich auf die nachhaltige Entwicklung von Städten bezieht, die Lebensbedingungen einer Schülerin in einem Viertel der Stadt Rio de Janeiro sowie Wohnraummangel und Mobilität auf Ebene der Gesamtstadt beleuchtet. Bei der Planung einer nachhaltigen Energieversorgung der Stadt durch Solaranlagen werden Ideen von lokal als auch von international agierenden Unternehmen einbezogen.

Konkret werden die Lernenden in eine fiktive Geschichte eingebunden und zu reflektierten Entscheidungen eingeladen. Dabei werden sie mit unterschiedlichen, teilweise sehr konträren Argumentationen beteiligter AkteurInnen konfrontiert und wiederholt dazu aufgefordert, Pro- und Contra-Argumente abzuwägen und Entscheidungen zu treffen. Wie in der Realität sind diese Entscheidungen meist komplex, beinhalten kontroverse Informationen und zeichnen sich durch Nicht-Wissen und Unsicherheit aus. Direkt im Anschluss werden die Lernenden mit den Konsequenzen konfrontiert, die wiederum Ausgangspunkte für weitere notwendige Entscheidungen darstellen. Je nach getroffener Entscheidung nimmt die Geschichte einen anderen Verlauf und zieht folglich andere Handlungskonsequenzen nach sich. Auf diese Weise sollen Wechselwirkungen und Rückkoppelungseffekte von individueller Handlung und regionalen, nationalen und globalen Prozessen deutlich werden.

Ziel ist, dass Lernende die Komplexität globaler Herausforderungen bzw. der SDGs erkennen, Möglichkeiten des Umgangs mit Komplexität, Kontroversität, Multiperspektivität und Nicht-Wissen reflektieren sowie Konsequenzen für ihr eigenes Handeln im persönlichen Umfeld ableiten.

Wie kann ich die Reflectories nutzen?

Bisher wurden Anwendungen zu vier ausgewählten SDG‘s entwickelt (SDG 2: „Kein Hunger“, SDG 11: „Nachhaltige Städte“, SDG 12: „Nachhaltige/r Produktion und Konsum, SDG 13: Maßnahmen gegen den Klimawandel“), die barrierefrei im Webbrowser durchführbar sind Nötig sind ein internetfähiges Endgerät (z.B. Smartphone, Tablet, Notebook, Whiteboard), ein Wlan-Zugang und nach Bedarf Kopfhörer. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Informationen und Materialien sind auf der Website hinterlegt. Die Reflectories werden derzeit an verschiedenen weiterführenden Schulen (ab Jahrgangsstufe 7) in Deutschland erprobt, wie z.B. am Pelizaeus-Gymnasium in Paderborn oder an der Realschule Gute Änger in Freising, und mithilfe von Online-Fragebögen evaluiert. Die Teilnahme weiterer Schulen ist gewünscht und ohne Anmeldung jederzeit über die Website möglich. Dort finden sich auch die Online-Fragebögen. Die Evaluationsergebnisse sollen auf der Website veröffentlicht werden und in die Entwicklung weiterer Reflectories einfließen.

 

Quellen:

Kultusministerkonferenz (KMK) & Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) (Hrsg.) (2016): Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung im Rahmen einer Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ein Beitrag zum Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. Bonn.

Schrüfer, Brendel, Zitzelsberger & Wrenger (2019): “Reflectories“ – Nachhaltige Entwicklungsziele für Schülerinnen und Schüler im Geographieunterricht erfahrbar machen. In: Obermaier (Hrsg.): Vielfältige Geographien – fachliche und kulturelle Diversität im Unterricht nutzbar machen. Bayreuther Kontaktstudium Geographie, Band 10, S. 229-238.

UNESCO (2017): Education for Sustainable Development Goals. Learning Objectives. Paris. (http://www.unesco.de/sites/default/files/2018-08/unesco_education_for_sustainable_development_goals.pdf)

 

Über die Autorinnen:

Prof. Dr. Gabriele Schrüfer studierte Lehramt für Gymnasien und ist Professorin für Didaktik der Geographie.  

Dr. Katja Wrenger studierte an der Humboldt-Universität Berlin Geographie, Kartographie und Ethnologie und ist Akademische Rätin am Institut für Didaktik der Geographie der WWU Münster.

 

Das Projekt wird gefördert von Engagement Global mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

 

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