Was bleibt?

Irgendwann ist die Corona-Krise vorbei. Noch dauert sie an, und sie mag uns auch noch lange zum Beispiel in der Notwendigkeit des Tragens von Masken begleiten, aber irgendwann wird zumindest die Phase der sehr restriktiven Maßnahmen vorbei sein. Und dann, bzw. auch schon jetzt, in Vorbereitung auf die „neue, alte“ Zeit, sollten wir uns fragen, was wir aus der Krise gelernt haben. Es gibt ohne Frage Auswirkungen, die kann man nicht schönreden. Manche von uns werden geliebte Menschen verloren haben, andere vielleicht ihre wirtschaftliche Existenz. Diese Menschen sollten jetzt und dann in unserem Blick und unserem Handeln beachtet sein! Und darüber hinaus? Welche vielleicht wertvollen Einsichten für unser Leben und für unsere Gesellschaft können wir gewinnen?

Mir fallen dabei vor allem fünf Dinge ins Auge. Erstens, und das ist vielleicht sogar die wichtigste Einsicht: Unsere Gesellschaft kann, wenn sie möchte, auf „Stopp“ drücken. Wir können insbesondere Menschen als wichtiger als Wirtschaftswachstum setzen. Das ist nicht banal. In einem Interview, das ich Anfang Februar gab, wies ich daraufhin, wie wichtig es wäre, als Gesellschaft mal anzuhalten und zu überlegen, was wir eigentlich wie, warum tun. Denn wir laufen immer schneller, immer ökonomisch effizienter, in die falsche Richtung! Falsch im Hinblick auf die ökologischen Grenzen und auch viele soziale Herausforderungen auf unserem Planeten. Zu dem Zeitpunkt schien ein solcher Stopp aber meinem Interviewpartner verständlicher Weise vollkommen unrealistisch. Aber jetzt wissen wir, dass es geht. Dass wir an einem Strang ziehen und massive Änderungen in unseren individuellen Leben und unseren gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen durchführen können, wenn wir der Meinung sind, dass sie das Gebot der Stunde sind, dass sie notwendig für die Sicherheit und das Überleben von uns und anderen sind.

Die zweite Einsicht, die ich gewonnen habe, ist, wieviel weniger ich brauche zu einem guten Leben. Unbestreitbar ist ein Alltag, in dem auf einmal Arbeit und Kinderbetreuung/Schulbegleitung gleichzeitig verfolgt werden müssen, eine Herausforderung. Doch gleichzeitig haben die Absage vielfältiger Aktivitäten der unterschiedlichen Familienmitglieder und das Wegfallen mancher Möglichkeiten der Zerstreuung auch zu einer Entschleunigung geführt, die unserer Familie gutgetan hat – was aber natürlich u.a. vom Alter der Kinder abhängt. Auch habe ich zwar tatsächlich weniger tägliche, soziale Kontakte als zuvor, aber dafür sehr bewusste und intensive, sei es über Videochats mit FreundInnen von nah und fern (hier hat die Krise den interessanten Effekt, dass FreundInnen in der Ferne auf einmal nicht mehr so benachteiligt sind) oder auch gemeinsame Spaziergänge auf Distanz. Allerdings kann ich diese Einsicht in das positive Potenzial eines entschleunigten Lebens jenseits des Hamsterrads in dieser Krisenzeit auch nur gewinnen, und das ist mir nur allzu bewusst, weil ich in einer vergleichsweise privilegierten Position bin: Meine Familie und ich sind zusammen und gesund, können von zu Hause arbeiten und lernen, müssen keine finanziellen Ängste haben und haben ausreichend Platz, um uns auch in der Zeit des Zuhausebleibens mal aus dem Weg gehen zu können. Insofern ist diese zweite Einsicht zwingend mit der dritten verknüpft:

Die dritte wesentliche Einsicht ist nämlich, welche Rolle Ungerechtigkeit in ihren vielfältigen Formen für die Stärke und Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft spielt. Gesellschaftliche Ungleichheit zeigt sich, nicht nur, aber gerade auch bei den Fragen des finanziellen Überlebens und des Lebensalltags. Warum gibt es in unserer relativ reichen Gesellschaft so viele Menschen, die unter unsicheren und finanziell prekären Bedingungen arbeiten und leben, die keine ausreichende Absicherung haben, wenn sie plötzlich nicht mehr arbeiten können bzw. dürfen, und die auch in Nicht-Krisenzeiten nicht die Möglichkeit haben, sich selbst einen Puffer anzusparen? Warum ist Wohnraum so ungleich verteilt, dass es Familien gibt, die jetzt zu fünft in einer 2-Zimmerwohnung sitzen? In diesem Zusammenhang rücken auch Fragen der Lastenverteilung, Wertschätzung und Entlohnung in den Blick. Sehr berechtigter Weise hören wir gerade oft etwas über die beklagenswerten Arbeitsbedingungen und die ihrem Aufwand und ihrer Verantwortung nicht entsprechende Entlohnung vieler Kräfte im Gesundheits- und Pflegebereich, die sich nicht nur jetzt, trotz der für sie bestehenden Risiken für das Wohl und die Gesundheit Anderer, aufreiben. Viele Eltern entwickeln wahrscheinlich gerade auch noch einmal eine differenziertere Einschätzung der Arbeitsbedingungen und Leistungen der LehrerInnen im Schulalltag. Fragen der Lastenverteilung und Wertschätzung sind darüber hinaus in vielen Familien relevant. Hier fangen vor allem Frauen gerade viel auf und werden dabei auch oft in herausforderndsten Situationen, wie zum Beispiel der Betreuung und Pflege von Kindern mit Einschränkungen oder pflegebedürftigen Eltern, von Politik und Gesellschaft allein gelassen. Fragen der Gerechtigkeit springen natürlich nicht zuletzt im internationalen Vergleich ins Auge. Die Situation in den Flüchtlingslagern, oder auch in vielen armen Ländern in der Welt, ist dramatisch: Auch in den Favelas in Südamerika, den Townships in Südafrika und den Armenvierteln in Indien, zum Beispiel, ist die Bekämpfung von Corona eine kaum zu überwindende Herausforderung. Die Solidarität, die sich in so vielen kleinen und großen Handlungen in unserer Gesellschaft im Kontext der Corona-Krise gezeigt hat, kann diese sozialen Herausforderungen zum Teil auffangen – aber eben auch nur zum Teil.

Das bringt mich zu meiner vierten Einsicht, der Bedeutung unserer kollektiven Sicherungssysteme und Infrastruktur. Wir haben Glück, in einem Land zu leben, in dem das Vorhalten einer ausreichenden Zahl von Intensivbetten geregelt wird, in dem die Umweltverhältnisse nicht schon per se so schlecht sind, dass wir alle hinsichtlich Atemwegserkrankungen vorbelastet sind, und in dem über Regelungen u.a. zum Kurzarbeitergeld Mechanismen existieren, um schnell und relativ unbürokratisch, zumindest für einen Teil der Unternehmen und ArbeitnehmerInnen, Chancen zu einer Überbrückung der Krise gewähren zu können. Dies sind nur einige der Sicherungssysteme, die wir in Deutschland vorhalten, obwohl sie vielleicht nicht zu dem oft so prioritär gesehenen Wachstum und wirtschaftlicher Effizienz beitragen. Hier lohnt ein Blick über den Atlantik: In den USA ist die Situation gerade nicht nur so katastrophal, weil vielerorts zu spät gehandelt wurde. Es fehlt grundsätzlich an Intensivbetten. Große Teile der Bevölkerung haben keine Krankenversicherung, sodass manche nicht zum Arzt gehen, wenn sie krank werden. Unter der afroamerikanischen Bevölkerung gibt es eine vergleichsweise exorbitant hohe Sterblichkeitsrate bei Corona-Infektionen, weil viele wegen der Umweltbelastungen in ihren Wohngegenden und auch sonstiger Lebensumstände mit Vorerkrankungen belastet sind. In den Pflegeheimen gibt es aufgrund schlechter Regularien hinsichtlich der Versorgung tausende von Toten. Und last but not least ist die wirtschaftliche Existenz eines viel, viel größeren Teils der US-amerikanischen Bevölkerung in einer solchen Krise bedroht, weil es weniger Auffangnetze für ArbeitnehmerInnen, Selbständige und Unternehmen gibt.

Die Notwendigkeit funktionierender kollektiver Sicherungssysteme schließlich verweist auf und hängt zusammen mit der fünften Einsicht: der Bedeutung einer funktionierenden Demokratie, und die bedarf wiederum unter anderem zweierlei. Zum einen kann man nur hoffen, dass viele von uns in der Krise erkennen konnten, wie gefährlich PopulistInnen sind, wie wichtig es ist, PolitikerInnen ans Ruder zu bringen, die nicht (immer nur) im Interesse der eigenen Wiederwahl, Finanzen oder Eitelkeit regieren – okay, ich gebe zu, viel zu viel von der Trump-Show auf der anderen Seite des Atlantiks mitbekommen zu haben – oder die Chance nutzen, sich unbegrenzte Macht zu verschaffen. Dazu gehört dann eben auch eine Gesellschaft, die nicht so polarisiert ist, dass sie alles, was von den Regierungen beschlossen wird, ablehnt, nur weil gerade nicht die normalerweise präferierte Partei an der Regierung ist. Oder die generell komplett das Vertrauen in die eigene politische Führung verloren hat, und deshalb konsequent alles ablehnt, was diese für notwendige Restriktionen in der Krise hält. Und das zeigt eben zum anderen, dass zu einer funktionierenden Demokratie auch eine solide gesellschaftliche Basis gehört. Wir brauchen eine Gesellschaft, in der wir miteinander reden und nicht nur unseren eigenen Neigungen auf ausgewählten Fernsehsendern oder Instagram-Kanälen folgen, in der alle das Gefühl haben können, mitgenommen und fair behandelt und im Zweifel geschützt zu werden, und in der alle ausreichend Zugang zu Bildung haben, um Informationen von Fake-News, Verschwörungstheorien und egozentrischen Inszenierungen unterscheiden zu können.

Was machen wir nun mit diesen Einsichten?

Ich stelle mir diese Frage insbesondere auch im Hinblick auf andere gesellschaftliche Herausforderungen. Wir reden zwar gerade wieder weniger über den Klimawandel, aber dieser ist eigentlich eine viel größere Bedrohung für uns als Corona. Allerdings ist er auch eine abstraktere Bedrohung, und deren Lösung ist tatsächlich noch viel komplexer und herausfordernder als die der Corona-Krise. Zwar werden wir wahrscheinlich in diesem Sommer wieder durch Hitze und extreme Trockenheit auch vor der eigenen Haustür viel von den Auswirkungen des Klimawandels mitbekommen. Trotzdem scheint das ganze doch so viel weiter weg und die Bedrohung so viel unpersönlicher. Können wir also von der Corona-Krise irgendetwas für die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und die Chancen menschlichen Überlebens auf diesem Planeten im Kontext des Klimawandels und anderer ökologischer Herausforderungen lernen?  

Ja, ich denke, das können wir, gerade im Hinblick auf die genannten fünf Einsichten. Wir wissen jetzt, dass wir uns auf dramatische Veränderungen einigen und einlassen können, wenn wir wollen, und verstehen, dass es im Interesse von uns allen ist. Und hier haben wir umso mehr Entscheidungsmöglichkeiten, je früher wir handeln, und je weniger die Akutheit der Bedrohung uns keine Wahl mehr lässt. Wir können menschliches Wohlergehen vor wirtschaftliches Wachstum setzen. Und das sollten wir nach der Corona-Krise viel konsequenter machen als vorher. Die jetzt gemachten Schulden werden getilgt werden müssen, und gleichzeitig bedarf es wahrscheinlich weiterer politischer Unterstützungsmaßnahmen. Dabei ist unbedingt darauf zu achten, dass diese die Ungleichheit in unserer Gesellschaft reduzieren und nicht vergrößern. Also bitte nicht wieder Banken und andere Konzerne (und vor allem deren InvestorInnen) auf Kosten der SteuerzahlerInnen retten. Auch muss klar sein, dass die vermögenden Teile der Gesellschaft den großen Teil der Last schultern müssen. Und wenn Konzerne mit Krediten gerettet werden, kann man auch fragen, wie die Beteiligung auch der durchschnittlichen SteuerzahlerInnen an künftigen Gewinnen des Unternehmens gesichert werden kann. Und schließlich dürfen Einsparungen eben gerade nicht unsere zentralen Sicherungssysteme betreffen. Stattdessen müssen diese stabilisiert und verbessert werden, was übrigens mit individuellen Sparpotenzialen, insbesondere für die ärmeren Teile der Bevölkerung, verbunden ist.

Genauso sollten die Maßnahmen uns helfen, die positiven ökologischen Nebeneffekte der Corona-Krise zu verstetigen. Mit anderen Worten, sollten wir gerade nicht versuchen, den Flugverkehr wieder anzukurbeln oder pauschal mehr Autos unters Volk zu bringen, wenn wir doch längst wissen, welche Technologien hier Auslaufmodelle sind. Ganz grundsätzlich können wir, gerade in Bezug auf Mobilität, die Krise nutzen, um viele Weichen in Richtung einer nachhaltigeren Zukunft zu stellen. Nicht ohne Grund hören wir gerade viel darüber, dass man in Peking und Los Angeles auf einmal wieder blauen Himmel erkennen konnte, das bedrohte Schildkrötenarten leere Strände nutzen, um ihre Eier abzulegen, und dass das sonst trübe Wasser in Venedigs Kanälen wieder kristallklar wird.

Reduzierung, Erholung und Entschleunigung sind nicht nur eine Frage der Mobilität und gelten nicht nur für die Natur.  Auch ganz grundsätzlich sollten wir uns die Frage stellen, wie wir individuell und gesellschaftlich nicht in das „neue, alte Leben“ zurückkehren, sondern gemeinsam ein neues, besseres kreieren. Mir hat die Krise mehr als je zuvor gezeigt, dass weniger definitiv mehr ist, und das betrifft tatsächlich viele Bereiche meines Lebens. Natürlich werde ich auch wieder zum Tanzen und in den Sportverein gehen, wenn das wieder möglich ist. Ich werde auch wieder ab und an etwas Anderes als Lebensmittel kaufen, insbesondere da Kinder nun einmal die Tendenz haben, aus Sachen herauszuwachsen. Das werde ich allerdings noch mehr als vorher in kleinen Geschäften machen und versuchen, die lokale Wirtschaft weiter zu stärken. Und natürlich freue ich mich darauf, mal wieder im Café zu sitzen oder im Restaurant zu essen, auch hier vor allem in familiengeführten, lokalen Unternehmen. Darüber hinaus werde ich aber vor allem auch meine sozialen Kontakte intensiv pflegen und mich für eine gerechtere und ökologisch nachhaltigere Gesellschaft und Politik einsetzen.

Vielleicht sollten wir mit der jetzt einsetzenden Lockerung der Restriktionen nicht sofort losstürzen und alles machen, was in den vergangenen Wochen nicht ging. Stattdessen könnten wir noch einmal innehalten und uns fragen – was will ich, was brauche ich wirklich? In welcher Gesellschaft möchte ich leben? Und was kann ich und möchte ich beitragen, um das möglich zu machen?

 

 

Wichtiger Hinweis und Tipps zum Weiterlesen:

Man könnte Bücher über die Bedeutung und Auswirkungen von Corona schreiben (und das passiert ja auch schon). Dieser Blogbeitrag kann nur ein paar zentrale Aspekte aufgreifen. Für alle, die sich insbesondere fragen, was wir aus Corona für die Nachhaltigkeitsherausforderungen allgemein und die Klimakrise im Besonderen lernen können, sind hier noch einige Webseiten zum Weiterlesen:

FAZ Net: „Der Klimawandel ist gefährlicher als Corona“, 19.4.2020

Umweltinstitut München: Grüne Erholung.

The New York Times: New Research Links Air Pollution to Higher Coronavirus Death Rates, Published April 7, 2020; Updated April 17, 2020.

WHYY: Climate change: lessons from the pandemic, April 14, 2020.

Pro Publica. Climate Change Won’t Stop for the Coronavirus Pandemic, April 13, 2020

1 Kommentar