Rebecca Froese und Julia Wiethüchter
An den Vorbereitungen und der Durchführung des Workshops, der die Grundlage dieses Artikels bildet, waren zudem Pia Mamut und Tobias Breuckmann beteiligt. Der Workshop wurde im Rahmen der beiden BMBF Verbundprojekte SUNRISE LAB und LATERNE organisiert.
Das Wissenschaftssystem – auch in Deutschland – unterliegt leider viel zu oft den kapitalistischen Zwängen von Produktivität und Wachstum: mehr Publikationen, mehr Drittmitteleinwerbungen, mehr Studierende bei gleichzeitig teils prekären Arbeitsbedingungen in Dauerbefristungen, maroden Infrastrukturen und intransparenten, ungleichen Machtstrukturen.
Über Nachhaltigkeit an Hochschulen zu sprechen bedeutet in diesem Sinne auch, die ökologischen Grenzen und das soziale Fundament der Academia neu zu denken, im Sinne
- einer akademischen Freiheit, die Zeit zum Denken und für von Neugier getriebene Wissenschaft schafft,
- einer akademischen Gemeinschaft, die unterstützende und kollegiale Zusammenarbeit fördert,
- Gleichstellung von Forschung und Lehre als Dienst an der Gesellschaft, die einen qualitativ-hochwertigen, wertgeschätzten und für alle Menschen erreichbaren Zugang zu Bildung und Wissen schafft, und
- einer transparenten und offenen Wissenschaft, der von der Gesellschaft vertraut wird, weil sie verständlich, zugänglich und nachvollziehbar ist.
Dieser Ansatz basiert auf dem Konzept des „Academic Doughnut“ der beiden Wissenschaftlerinnen Clare Kelly und Anne Urai (2023). Die beiden entwerfen das Bild eines Donuts, dessen äußerer Ring die Einhaltung der menschlichen Grenzen und der planetaren Grenzen beschreibt. Deren Überschreitung wird aktuell durch durch nicht-nachhaltige Entwicklungen bedroht, mehrere gelten auch bereits als überschritten. Der innere Ring erfasst das soziale Fundament, das Universitäten bieten sollten und das den oben aufgelisteten neu gedachten Grundsätzen folgt.
Die hier beschriebene Transformation von Hamsterrädern und Elfenbeintürmen ist notwendig, um Vertrauen, Teilhabe und Gerechtigkeit an der Universität zu fördern und so die sozialen Voraussetzungen für die Einhaltung ökologischer Grenzen an und mit der Universität und sämtlichen Statusgruppen und Akteur*innen zu schaffen. Das betrifft auch die Universität Münster. Darum haben wir im Oktober 2023 einen Workshop im Rahmen des Nachhaltigkeitstages der Uni Münster durchgeführt und mit ca. 28 ganz unterschiedlichen Personen überlegt, wie wir diese Ideen entlang der vier Kernbereiche der Universität – Forschung, Lehre, Betrieb, Transfer– weiterdenken können. Erste Ergebnisse sind in den unten beschriebenen Zukunftszenarien für das Jahr 2035 dargestellt.
Forschung – für eine von Neugier getriebene, kollaborative Wissensproduktion
In der Forschung zeigen sich die oben beschriebenen Entwicklungen zu immer mehr Produktivität und Konkurrenz besonders deutlich in der Fokussierung auf die Anzahl von Publikationen und dem Druck, finanzielle Mittel einzuwerben. Diese Entwicklungen führen dazu, dass das ursprüngliche, Neugier-geleitete Interesse an Forschung abnimmt, da die Forschenden durch zusätzliche Aufgaben überlastet sind.
Wie könnte also der Bereich Forschung neu gedacht werden? Die Teilnehmer*innen des World-Cafés entwarfen für das Jahr 2035 folgende Bilder einer solchen Zukunft:
- Zurück zur Neugierde und Freiheit: Forschende haben die Zeit und den Raum, alleine und im Team zu denken, zu schreiben und Wissen zu produzieren. Forschende werden vor Überlastung geschützt, zum Beispiel durch Freizeitausgleich für Überstunden und durch die Trennung von Personalverantwortung und Forschung. Es findet ein kollektives Forschen statt, auch mit Akteur*innen außerhalb der Institution. Ein Schlüsselwort ist „Wir“. Unterschiedliche Wissens- und Wissenschaftsformen werden im Forschungsprozess berücksichtigt.
- Gerechtere Forschungsförderung: Es gibt eine Lobby von Forschenden, die sich auf nationaler und internationaler Ebene dafür einsetzen, dass Forschungsförderung gerechter verteilt wird und dabei vor allem auch Nachwuchswissenschaftler*innen erreicht. Die Forschungsförderung ist breiter aufgestellt: Es gibt mehr Förderung für direkt nachhaltigkeitsbezogene Projekte. Es werden auch kreative, kleine, und über kürzere Zeiträume laufende Projekte gefördert, die der Orientierung und Vernetzung dienen.
- Teilen von Wissen und Ressourcen: Inter- und Transdisziplinarität wird durch regelmäßigen Austausch gefördert. Es gibt genug Zeit und Offenheit für diesen Austausch, weil dieser institutionalisiert ist. Es gibt auch Austausch mit Nachhaltigkeitsmultiplikator*innen aus der Gesellschaft. Für die Forschung notwendige Ressourcen werden geteilt.
- Orientierung an Nachhaltigkeitskriterien: In der Forschungsdatenbank der Universität Münster (CRIS) wird gekennzeichnet, welche Forschungsprojekte zu welchem Nachhaltigkeitsziel beitragen. An jedem Lehrstuhl und an jeder Professur gibt es Nachhaltigkeitsbeauftragte.
Lehre – für eine zukunftsorientierte Ausbildung von gesellschaftlichen Entscheidungsträger*innen
Die Lehre ist eine zentrale Aufgabe der Universität. Bei der Besetzung von Stellen wird „gute“ Forschung dennoch häufig als relevanterer Faktor gewertet. Damit verspielt die Universität eine ihrer größten Hebelwirkungen im Sinne der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE), indem sie verkennt, dass die Studierenden schon „heute“, aber spätestens „morgen“ als Entscheidungsträger*innen die Transformation zur Nachhaltigkeit vorantreiben oder eben bremsen.
Aus den Gesprächen des World-Cafés ergaben sich vier Kernvisionen dafür, wie der Bereich Lehre im Jahr 2035 geprägt sein sollte:
- Kultur des Teilens: Methoden, Erfahrungen und Baukästen verschiedener Formate der Thematisierung von Nachhaltigkeit in spezifischen Fachdisziplinen werden geteilt und stehen allen Lehrenden zur Verfügung. Lehrveranstaltungen werden in Kooperation mit Studierenden geplant, um Erwartungen und Anforderungen aufeinander abzustimmen und Menschlichkeit in den Beziehungen zwischen Studierenden und Dozierenden zu stärken.
- Nachhaltigkeit als Querschnittsthema: Nachhaltigkeit wird als Basiskompetenz Lehrender bei der Personalwahl und in der Personalentwicklung priorisiert. Zudem werden zusätzliche Mittel für Lehraufträge im Kompetenzbereich Nachhaltigkeit der Allgemeinen Studien bereitgestellt. Studienleistungen und Prüfungsformate werden im Sinne des forschenden Lernens konsequenter in die aktuelle Forschung eingebracht oder durch Formate des Service Learning mit gesellschaftlichen Bedarfen in der Stadt und der Region verknüpft.
- Lernen aus Neugierde: Studierende erhalten die Freiheiten innerhalb des Curriculums ihrer Neugier entlang bestimmter Fragestellungen nachzugehen. Hierfür werden Zeit innerhalb der zu erbringenden Leistungen sowie entsprechende Räume und ggf. Mittel für die eigene Auseinandersetzung mit selbstgewählten Themen und Fragestellungen bereitgestellt und durch Lehrende moderierend begleitet. Ergebnisse aus derartigen Lehraktivitäten werden nicht nur in den Räumen der Universität, sondern auch in öffentlichen Räumen einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.
- Wertschätzung: Studentisches Engagement und Partizipation in universitären und gesellschaftlichen Gremien/Initiativen etc. wird durch Leistungspunkte honoriert und Studierende werden als gleichberechtigter Teil der universitären Strukturen wertgeschätzt. Der Zeitaufwand Dozierender für die Entwicklung innovativer Lehrformate wird durch zeitliche, finanzielle oder andere Mittel honoriert und entsprechend in Stellenausschreibungen eingeplant und eingefordert.
Betrieb – für einen respektvollen Umgang mit begrenzten Ressourcen
Die Universität Münster ist ein großer Betrieb mit vielfältiger, ressourcenintensiver Infrastruktur, einer bedeutsamen Anzahl an Beschäftigten und strukturiert durch Verwaltungsprozesse und Hierarchien. Daher ist die betriebliche Facette der Universität ein entscheidender Ansatzpunkt für den Wandel zur Nachhaltigkeit.
Aus den Gesprächen des World-Cafés ergaben sich vier Kernvisionen für den Bereich Betrieb im Jahr 2035:
- Engagiertes Personal: Für neue Mitarbeitende gibt es ein einladendes Onboarding und eine Übersicht über nachhaltigkeitsrelevante Aktivitäten an der Universität. Durch informierte Personalauswahl entstehen nachhaltigere Arbeitsverhältnisse und eine engagierte Belegschaft. Jede Person, die an der Universität arbeitet, weiß, wie Nachhaltigkeit in ihrem Bereich umgesetzt wird. Nachhaltigkeit ist in den Köpfen verankert.
- Unterstützende Infrastruktur: Ressourcen aus unterschiedlichen Bereichen des Betriebs werden geteilt, zum Beispiel wird das Geschirr aus der Mensa für Veranstaltungen verliehen. Es gibt Infrastruktur für die remote-Teilnahme an Konferenzen und die Organisation von Veranstaltungen. Hinderliche bürokratische Prozesse werden vereinfacht. Mehr agiles Arbeiten ist möglich. Ressourcen wie Energie, Gas und Wasser werden effektiv genutzt und kommen aus nachhaltigen Quellen. Es gibt Transparenz darüber, wo wie viele Ressourcen verbraucht werden.
- Anreize für nachhaltiges Handeln: Es gibt motivierende Strukturen, um alle Mitarbeiter*innen dazu anzuhalten, Nachhaltigkeit umzusetzen. Zum Beispiel gibt es einen Wettbewerb zu nachhaltiger Mobilität oder eine Arbeitsgruppe, in der nachhaltige Alternativen in Laboren oder anderen fachspezifischen Arbeitsprozessen erprobt werden können. Exkursionen verdeutlichen die Relevanz und die Machbarkeit von Nachhaltigkeit im Alltagsgeschäft.
- Erleichterung von Entscheidungen: Es gibt Richtlinien, die die Entscheidung für nachhaltiges Handeln erleichtern. Zum Beispiel existiert eine Dienstreiserichtlinie, die klimafreundliche Reisealternativen priorisiert und gemeinsam mit den Forschenden aller Fachbereiche entwickelt wurde und durch die Leitung der Universität unterstützt wird, z.B. ein Flugkilometerbudget pro Person. Zusätzlich gibt es leicht verfügbare Informationen über nachhaltige Betriebspraktiken anderer Universitäten . Strukturen und Ansprechpartner*innen für Nachhaltigkeit an der Universität sind bekannt und die Informationen darüber leicht zugänglich.
Transfer – für eine verständliche, nachvollziehbare und transparente Wissenschaft als Dienst an der Gesellschaft
Durch Projekte sowie ihre Funktion als großer regionaler Arbeitgeber ist die Universität in die Stadt und die Region lokal-regional integriert. Sie ist gleichzeitig durch Forschungs- und Studienkontakte international vernetzt. Durch diese Schnittstellenfunktion eröffnen sich vielfältige Räume für Transformation durch Transfer an der Universität Münster. An dieser Stelle möchten wir hervorheben, dass wir Transfer hier im Sinne des akademischen Donuts als dialogisches Lernen von, mit und zwischen Universität und außeruniversitärer Gesellschaft verstehen.
Aus den Gesprächen des World-Cafés ergaben sich drei Kernvisionen für den Bereich Transfer für das Jahr 2035:
- Orientierung an praktischen Bedarfen: Transfer seitens der Universität findet nicht nur gesteuert von der Universität bzw. einzelnen Forschenden statt, sondern ebenso getrieben von Anfragen aus der Gesellschaft. Eine zentrale Anlaufstelle für Forschungsfragen von Bürger*innen vermittelt diese an Forschenden aus den entsprechenden Bereichen an der Universität und ermöglicht die gemeinsame Bearbeitung von Forschungsfragen. Die Einbindung von Studierenden durch die Verknüpfung innovativer Formate wie Service Learning-Angeboten und forschendem Lernen bietet hier das Potenzial, Transfer in Lehrveranstaltungen zu integrieren und diesen wissenschaftlich zu reflektieren.
- Wertschätzung von Wissenschaftskommunikation (WissKomm) und Methodenvermittlung: Im Angesicht steigender gesellschaftlicher Wissenschaftsskepsis wird nicht nur generiertes Wissen selbst kommuniziert, sondern es werden auch die Methoden, mit denen dieses Wissen generiert wird, transparent gemacht. Die Vermittlung eines besseren und adäquateren Bildes wissenschaftlicher Diskurse in den Medien bei gleichzeitiger Aufklärung über Sicherheiten und Unsicherheiten wissenschaftlicher Daten und den entsprechenden Umgang mit diesen stärkt die wissenschaftliche Kompetenz in der Gesellschaft. Bereits stattfindende WissKomm wird verstärkt anerkannt. Zudem werden Trainings und entsprechende zeitliche Entlastungen für Wissenschaftler*innen angeboten, die ihre Kommunikationsfähigkeiten ausbauen möchten. Damit nicht nur die Forschungsthemen aus Wissenschaftsbereichen kommuniziert werden, in denen viele finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen, wird an jedem Institut eine Stelle geschaffen, die praktische Unterstützung bei der Professionalisierung der WissKomm-Aktivitäten anbietet. Ein kleines Budget für Aktivitäten in der Wissenschaftskommunikation steht jedem und jeder Forschenden auf niedrigschwelligem Antrag hin zur Verfügung.
- Transparenz: Die oben geschilderten Maßnahmen stärken die Transparenz und die Möglichkeiten der Teilhabe der außeruniversitären Gesellschaft an wissenschaftlicher Forschung. Zudem ermöglichen sie, die Forschung an gesellschaftlichen Bedarfen auszurichten und Problemstellungen von, mit und für Bürger*innen zu bearbeiten. Dadurch wird die Universität weniger als „eigene Welt“, sondern mehr als „Teil der Welt“ wahrgenommen.
Fazit – Hochschulen als Treiber für nachhaltigen Wandel
Damit Hochschulen Treiber eines nachhaltigen Wandels werden, ist eine universitätsinterne Transformation unabdingbar. Die hier beschriebenen Ideen können nur erste Schritte auf dem Weg zu einer nachhaltigen Universität sein. Wir möchten mit diesem Beitrag zu weiteren Diskussionen anregen und hoffen darauf, dass möglichst viele Menschen sich aktiv an der Gestaltung von Forschung, Lehre, Betrieb und Transfer beteiligen und Räume für neue Ideen zu schaffen:
- zur Ermöglichung von Aushandlungsprozessen und transdisziplinären Dialogen,
- als Schnittstelle zur Vernetzunggesellschaftlicher Gruppen für den Austausch von Wissen und Ressourcen, sowie zur Stärkung politischer Teilhabe, und
- als “Spielwiesen” für das Ausprobieren neuer Formate und das Testen transformativer Prozesse, z.B. durch Reallabore wie im Projekt SUNRISE LAB oder Werkstätten, wie im Projekt LATERNE angedacht.
Dabei möchten wir anregen, langfristig die Bildung von Vertrauen, Teilhabe und Gerechtigkeit an der Universität im Fokus zu behalten, um die sozialen Voraussetzungen für die Einhaltung ökologischer Grenzen an und mit der Universität Münster zu schaffen, und dem akademischen Donut so Stück für Stück näher zu kommen.
Autorinneninformation
Dr. Rebecca Froese forscht am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Münster. Dort beschäftigt sie sich mit dem Aufbau von Reallaboren zur Transformation hin zu nachhaltigeren Hochschulen. Ihre Forschungsthemen umfassen neben der transdisziplinären Forschung größere Fragen nach Konflikttransformation, Friedensbildung und Gerechtigkeit in der sozial-ökologischen Transformation. Promoviert hat sie an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (bis 12/2022 Universität Koblenz-Landau) zu Umweltgovernance, Landnutzungskonflikten und sozial-ökologischen Kipppunkten im südwestlichen Amazonas.
Julia Wiethüchter ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Interdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster. Momentan forscht sie zu organisationalen Transformationsprozessen und Nachhaltigkeit an Hochschulen im Projekt LATERNE. Darüber hinaus beschäftigt sie sich mit Fragen der Wissenschaftssoziologie, mit globalen Machtstrukturen, sowie mit dem Zusammenhang von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung. Sie hat im Rahmen des Graduiertenkollegs „Wissenschaftsmanagement und -kommunikation als forschungsbasierte Praxen der Wissenschaftssystementwicklung“ zu epistemischer Gerechtigkeit in Forschungsprojekten für nachhaltige Entwicklung an der Universität Speyer promoviert.
Referenzen
Urai, Anne E.; Kelly, Clare (2023): Point of View: Rethinking academia in a time of climate crisis. In: eLife Sciences Publications, Ltd, 02.07.2023. Online verfügbar unter https://elifesciences.org/articles/84991.