Kritisches Denken in der Schule. Überlegungen zu Möglichkeiten der Förderung bei Schüler*innen

David Rott und Marcus Kohnen

In einer explorativen Studie haben wir gefragt, was Lehrer*innen unter kritischem Denken verstehen und wie sich dieses in der Schule fördern lassen kann (Kohnen & Rott, 2021, 2022, Janke, Rott & Kohnen, 2023). Eigentlich müsste das doch ganz einfach sein. Denn kritisches Denken ist doch ein Ziel in der Schule, auf das sich wahrscheinlich fast alle einigen können: Es ist doch klar, dass Schüler*innen in der Schule zu kritisch denkenden Personen erzogen werden sollen!

Aber die kleine Studie und auch der weiterführende Blick in die aktuelle Forschungslandschaft zeigen, dass es offensichtlich nicht so einfach ist. Zwar waren alle befragten Lehrpersonen der Meinung, dass kritisches Denken in der Schule gefördert werden solle. Was darunter zu verstehen ist, welche Möglichkeiten es in der Schule gilt und was die Lehrpersonen selbst in ihrem Unterricht anbieten war dann aber eben nicht mehr so eindeutig. Um es kurz zu machen: Es fehlt an Zeit, aber vielfach auch an guten Ideen, um kritisches Denken gezielt zu fördern. 

Also geben wir Autoren die Frage einmal an Sie als Lesende weiter – quasi als kleines Gedankenspiel. Holen Sie sich einen Stift und einen Zettel oder ein digitales Schreibgerät und überlegen Sie einmal, was Ihnen zu der folgenden Frage einfällt:

Können Sie sich an eine eigene Situation in der Schule erinnern, von der Sie heute sagen, dass Sie hier im kritischen Denken geschult wurden?

Die Hoffnung ist natürlich, dass es rückblickend die eine oder andere Situation gibt, die Ihnen nun einfällt. Wahrscheinlich dreht sich Ihre Erinnerung um etwas, das sich klar vom regulären Unterricht abhebt. Vielleicht sind Sie mit Menschen in Kontakt gekommen, die Ihnen etwas Spannendes berichtet haben: Ein Gast aus der Wissenschaft, eine historische Zeitzeugin, ein Politiker oder eine Person aus der Wirtschaft. Vielleicht hat die Lehrperson Ihnen eine Aufgabe gegeben, die Sie in besonderer Weise herausgefordert hat. Vielleicht haben Sie mit Ihren Mitschüler*innen einen Punkt gehabt, über den Sie lang und ehrlich gestritten haben, wo Sie argumentiert und sich an anderen Perspektiven gerieben haben. Vielleicht war es aber auch etwas ganz anderes, was Sie aufgeschrieben haben.

Hiervon ausgehend nun der zweite kleine Auftrag zum Nachdenken:

Welche Idee(n) hätten Sie, um Schüler*innen zum kritischen Denken anzuregen? Nutzen Sie gerne fachliche Bezüge (Unterrichtsfächer, Ihr eigenes Arbeitsgebiet, Hobbies) oder auch die Altersgruppen (Grund- oder weiterführende Schule), die Ihnen am nächsten sind und schreiben Sie Ihre Gedanken auf.

Wahrscheinlich haben Sie die eine oder andere Idee notiert, vielleicht auch ausgehend von Ihren eigenen Schulerfahrungen. Sicherlich dürfte Ihnen aber sicherlich, dass es gar nicht so leicht ist, Ideen in diesem Bereich zu generieren. Dies gilt vor allem dann, wenn die Ideen nicht nur recht abstrakt, sondern sehr konkret durchdacht sein sollen.

Ein Grund dafür könnte sein, dass im Text – und vielleicht auch in Ihrem Kopf – der Begriff kritisches Denken noch gar nicht geklärt ist. Das ging den Lehrpersonen in unserer Erhebung auch so. Kritisches Denken scheint zunächst ein recht klarer Begriff zu sein. Schaut man genauer hin, wird es schwer, ein präzises Verständnis zu gewinnen.

Kritisches Denken – eine Begriffsbestimmung

Hier also der Versuch einer eigenen Begriffsbestimmung: Kritisches Denken kann verstanden werden als eine Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung. Es kann dazu beitragen, dass sich Menschen mit komplexen Fragen und Problemen adäquat befassen können, etwa in gesellschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Kontexten, auf die es keine (vermeintlich) leichten oder eindeutigen Antworten gibt. Dabei – und das erscheint als dritter Aspekt noch einmal besonders relevant – ist kritisches Denken auf die Zukunft ausgerichtet. Es geht um Fragen der Handlungsoptionen und der Gestaltungsmöglichkeiten für das Individuum, aber vor allem auch in der Einbindung in soziale Prozesse (Rott & Kohnen, 2023). Gerade die Fragen des Zusammenlebens werden hierbei in den Mittelpunkt der Überlegungen gestellt. Der Philosoph Jonas Pfister macht diese normative Ausrichtung deutlich: „Wenn wir in einer modernen Gesellschaft leben und unseren Beitrag zu ihr leisten wollen, dann müssen wir im positiven Sinne möglichst kritische Denkerinnen und Denker werden.“ (Pfister, 2020, S. 7). Kritisches Denken ist demnach etwas genuin Positives und ist nicht zerstörend, sondern ein Gestaltungs- und Entwicklungselement. 

Mit diesem Bestimmungsversuch im Hinterkopf lohnt es sich, die oben gemachten Überlegungen noch einmal in den Blick zu nehmen. Kritisches Denken in der Schule zu fördern ist also an Komplexität gebunden, eine Zukunftsorientierung ist dabei ebenso entscheidend wie die normative Ausrichtung, die den Rahmen für die eigenen Überlegungen zu komplexen Fragen oder Problemen festlegt. Hinzu kommt die soziale Eingebundenheit der Schüler*innen, die in ihren Lerngruppen zusammen mit anderen mit dieser Uneindeutigkeit umgehen müssen. Denn erst hier kann sich das kritische Denken auch zeigen. Denken spielt sich im Inneren einer Person ab. Im Unterricht und in der Schule werden die Schüler*innen aber permanent dazu aufgefordert das Innere nach außen zu kehren – also zu zeigen, was sie denken und dies nach außen tragen, etwa indem sie etwas leisten.  

Kritisches Denken lehren – Die Critical Thinking Skills

Hierfür braucht es sicherlich Grundlagen, ein Handwerkszeug, mit denen Schüler*innen planvoll und systematisch an eine Frage herangehen können. In den USA ist die Idee der Critical Thinking Skills seit Ende der 1980er Jahre ein Zugang zum kritischen Denken. Ausgehend von den Arbeiten von Faccoini (1990) sind sie wie eine Werkzeugkiste zu verstehen. Angeboten werden Handlungsstrategien, um mit komplexen Aufgaben umzugehen. Hierzu gehören etwa Lesestrategien, mit denen Schüler*innen prüfen können, ob sie Quellen vertrauen können, oder ob es sich um Fehlinformationen handelt oder Kommunikationsstrategien, die darauf abzielen, eigene Argumente deutlich auszuarbeiten und auch vor anderen präsentieren zu können. 

Dieser Koffer alleine reicht aber nicht aus, wenn es darum geht, Problemen in ihrer ganzen Komplexität zu begegnen. Komplexitätsreduktionen erscheinen zwar manchmal in der Schule nötig – kommen aber dann an ihre Grenzen, wenn Fragestellungen nicht kleingehalten, sondern bewusst herausfordernd und komplex eingefordert und seitens der Lehrperson auch zugelassen werden. Gerade an dieser Stelle verzahnt sich das kritische Denken mit Fragen von Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsbildung. Nachhaltigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil im Diskurs von gesellschaftlichen Transformationsprozessen geworden, weshalb eine Teilhabe am Diskurs und Gestaltungskompetenz in den Prozessen notwendig zu sein scheint. Daraus folgt für die Nachhaltigkeitsbildung, dass sie Schüler*innen dazu befähigen muss selbstständig zu nachhaltigen Entscheidungen und Handlungen zu kommen. Es zeichnet sich ab, dass es bei diesem Ansatz nicht um ein Lernen von „Verhaltensregeln für Nachhaltigkeit“ geht –sollen Lernprozesse von Schüler*innen Teil einer Bildung für Nachhaltigkeit (siehe auch Blogbeitrag von Hellberg-Rode) und zugleich selbst nachhaltig sein, dann müssen sie auch so gestaltet werden, dass sie dauerhaft zu einer (nachhaltigen) Entscheidungs- und Handlungspraxis führen können. Das Lernen als einen transformativen Prozess zu verstehen ist dazu ein Ansatz (transformative learning), gemäß dessen die Veränderung des Selbst- und Weltbilds unterstützt durch einen kritischen Denkprozess als Grundlage zum Handeln verstanden werden kann (Zeuner, 2012). 

Strategien, wie sie die Critical Thinking Skills bereithalten, sind dabei sicherlich nützlich, aber eben nur ein Werkzeug, das sich in der denkenden Praxis bewähren muss. Darüber hinaus zeichnen sich Entscheidungs- und Handlungssituationen im Kontext von Nachhaltigkeit nicht nur durch Komplexität aus, sondern können durch Gegensätze oder Dilemmata gekennzeichnet sein. Eine Portion Ambiguitätstoleranz könnte hier hilfreich sein, wenn bspw. individuelle Entscheidungspräferenzen von kollektiven Entscheidungen überstimmt werden.

Schulische Angebote zur Förderung kritischen Denkens

Die Frage ist dann aber, wie schulische Angebote aussehen, die kritisches Denken herausfordern. Ein Vorschlag (Kohnen & Rott, 2023) ist, die Lernarchitekturen auf drei Ebenen anzusiedeln und sie so zu unterscheiden: (1) Angebote im Fachunterricht (2) Angebote im fächerübergreifenden Unterricht und (3) Angebote im außerunterrichtlichen Arrangement.

Angebote im Fachunterricht können sich die innerfachlichen Logiken und Bezugspunkte zunutze machen. Zudem ist der Fachunterricht die Struktur, in die Schule zuallermeist eingebunden ist. Auch die Lehrpersonen sind in ihren Unterrichtsfächern ausgebildet und verfügen somit (im Idealfall) über Expert*innenwissen in ihrer Domäne. Eine Frage oder ein Problem kann aus dieser bestimmten Domäne angeschaut, analysiert und bearbeitet werden.

Angebote im fachübergreifenden Unterricht überwinden die Fächergrenzen und schaffen eine Mehrperspektivität. Naturwissenschaftliche können mit ästhetischen Zugängen verbunden werden. Dabei kann deutlich werden, dass eine Frage oder ein Problem ganz unterschiedlich betrachtet werden kann, sofern mit den Fachperspektiven auch widerstrebende Aspekte eingewoben werden.

Außerunterrichtliche Angebote schaffen noch einmal mehr Freiraum, sind aber auch voraussetzungsvoll mit Blick auf die Organisation von Schule, wie wir sie kennen. Außerhalb des Unterrichts können noch einmal stärker weitergehende Expertisen eingebunden werden, der Leistungsdruck kann in den Hintergrund rücken, zeitliche Dimensionen (45 Minuten-Rhythmus).

Für die Schule ist es zunächst einmal aber auch spannend zu sehen, welche Aufgabenformate dabei helfen können, kritisches Denken bei Schüler*innen zu fördern. Denn hier gibt es bislang vergleichsweise wenige konkrete Ideen. Ein Beispiel, dass häufiger benannt, aber empirisch noch nicht gut bearbeitet ist, ist der Einsatz von Dilemmata. Dabei werden Schüler*innen mit Situationen konfrontiert, die nicht eindeutig lösbar sind und bei denen verschiedene Interessen und Begründungszusammenhänge deutlich werden können. 

In unterschiedlichen Studien haben wir Schüler*innen mit solchen Dilemmata im Bereich der Nachhaltigkeit konfrontiert. In der Bearbeitungsintensität war dabei spannend zu beobachten, dass die Argumente für oder gegen eine bestimmte Entscheidung umso differenzierter ausfallen, je mehr die Schüler*innen zur Interaktion mit ihren Mitschüler*innen aufgefordert waren. In einer reinen schriftlichen Beschäftigung wurden die Ideen für Lösungen deutlich weniger stark herausgearbeitet, wie dies in der Arbeit in Kleingruppen möglich war. Dies zeigte sich auch schulformübergreifend, von der Sekundarschule in den Klassen 6, 7 und 8 mit Schüler*innen, die nur bedingt über die Bildungssprache verfügten bis hin zu einer interessengeleiteten Arbeitsgemeinschaft in der Vorbereitung auf Schülerwettbewerbe im MINT-Bereich am Gymnasium, die auf viel Kontextwissen zurückgreifen konnten. 

Auch für die Grundschulen sind solche Aufgaben denkbar, etwa wenn man diskutiert, ob die Schüler*innen zu Fuß zur Schule gehen oder mit dem Auto gefahren werden möchten. Dadurch lernen sie, die Auswirkungen ihres Handelns auf die Umwelt abzuwägen und nachhaltigere Entscheidungen zu treffen.

In unserer Arbeit mit den unterschiedlichen Schüler*innengruppen haben wir aber auch selbst viel gelernt: Das, was für uns als Erwachsene, als Familienväter, als Forschende ein Dilemma zu seien scheint, muss sich für die Schüler*innen gar nicht unbedingt als ein Dilemma darstellen. In der Entwicklung der Aufgaben muss es also auch gerade im Sinne der Partizipation darum gehen, die Perspektiven der Schüler*innen stark einzubinden. Eine Idee wäre hier, Formate in Zusammenarbeit mit Schulen zu entwickeln, in denen Schüler*innen selbst Dilemmata ausbuchstabieren können. Dies könnten Aufgabenformate sein, die dann auch für eine breitere Schüler*innenschaft eingesetzt werden können.


Autoreninformationen 

David Rott ist Studienrat im Hochschuldienst an der Universität Münster. Er arbeitet im Institut für Erziehungswissenschaft in der Arbeitseinheit Begabungsforschung und Individuelle Förderung in der Lehrer*innenbildung und der Schüler*innenförderung. Seine Themenschwerpunkte sind Forschendes Lernen, Begabungsförderung, Kritisches Denken und Kinderrechtebildung.

Marcus Kohnen ist Studienrektor im Hochschuldienst an der Universität Münster. Er arbeitet im Institut für Erziehungswissenschaft im Projekt Leistung macht Schule (LemaS). Seine Themenschwerpunkte sind LemaS, Nachhaltigkeitsbildung, Kritisches Denken und digitale Lernsettings.


Literatur

Facione, P. (1990). Critical thinking: a statement of expert consensus for purposes of educational assessment and instruction. Millbrae: California Academic Press.

Kohnen, M. & Rott, D. (2021). Critical Thinking: Teachers Perspectives, its Meaning for School and their Assessment of Students. Conference Paper EERA 2021. https://eera-ecer.de/ecer-programmes/conference/26/contribution/51215/

Kohnen, M. & Rott, D. (2022). Critical Thinking in Science – Teachers Perspectives. In G.S. Carvalho, A.S. Afonso & Z. Anastácio (Hrsg.), Fostering scientific citizenship in an uncertain world (Proceedings of ESERA 2021), S. 555-561. Braga: CIEC, University of Minho. Online unter https://drive.google.com/file/d/183GuTjwOOxSQqXpf0MjXJrZCcO6TOKdL/view

Kohnen M. & Rott, D. (2023). Kritisches Denken lehren und lernen. Schulische Partizipation und Teilhabe aller Schüler*innen in der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Gemeinsam leben (2), 118–125. DOI: 10.3262/GL2302118

Janke, S., Rott, D. & Kohnen, M. (2023) Kritisches Denken aus der Perspektive von Lehrkräften. Eine explorative Fragebogenstudie. In C. Fischer, C. Fischer-Ontrup, F. Käpnick, N. Neuber & C. Reintjes (Hrsg.), Potenziale erkennen – Talente entwickeln – Bildung nachhaltig gestalten. Münster: Waxmann. 225-234

Pfister, J. (2020). Kritisches Denken. Ditzingen: Reclam. 

Rott, D. & Kohnen, M. (2023) Kritisches Denken lehren: Inklusionsorientierte Konzeption von Lernarchitekturen und Aufgabenformaten. Qualifikation für Inklusion. Online-Zeitschrift zur Forschung über Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte.     DOI: 10.21248/QfI.102

Zeuner, Christine (2012): „Transformative Learning“: Ein lerntheoretisches Konzept in der Diskussion. In: H. von Felden, C. Hof, Christiane & S. Schmidt-Lauff (Hrsg.),Erwachsenenbildung und Lernen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. 93-104.