Nachhaltigkeit und Digitalität im schulischen Kontext

Marcus Kohnen

Nachhaltigkeit und Digitalität sind zwei Schlagworte, die uns alltäglich begegnen, weil sie maßgeblich mit den aktuellen gesellschaftlichen und ökologischen Veränderungen (Stichwort: große Transformation; WBGU 2011) verbunden sind. Dabei scheinen die Perspektiven beider Schlagworte unterschiedlich zu sein – zumindest auf den ersten Blick. Während Nachhaltigkeit bzw. eine nachhaltige Entwicklung die Sichtweise sein soll, mit der ökologischen Krisen wie bspw. dem Klimawandel oder dem Artensterben begegnet werden kann, so steht Digitalisierung  bzw. die Digitalität für einen technischen Fortschritt, der das Leben angenehmer machen soll.

Auf einen zweiten Blick könnte ich denken, dass mein alltägliches Leben längst nachhaltig ist, zumindest wenn ich den vielfältigen Nachhaltigkeitsversprechen auf Konsumgütern glauben würde. Nachhaltigkeit scheint käuflich zu sein und ist es auch, wie der Handel mit CO2-Zertifikaten verdeutlicht (siehe auch die Thesen von Peter Carstens). Mein Alltag gestaltet sich aber auch digital, exemplarisch steht hier das Smartphone mit seinen unendlichen Möglichkeiten – telefonieren (war gestern), Social Media, bezahlen, navigieren, fotografieren und Vogelstimmen erkennen. Im dritten Quartal 2022 standen beim App-Anbieter Google Play über 3,5 Millionen Apps zur Verfügung. Schon bei diesem zweiten Blick werden Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und Digitalität hinterfragbar, z.B. bei der Frage wie nachhaltig eine Internetrecherche ist. Bezogen auf den Stromverbrauch wäre das Internet der 6. größte Verbraucher im Ländervergleich, weshalb ich mich selbst fragen sollte, ob ich wirklich immer alles mal eben schnell Googlen muss? Andererseits kann das digitale Arbeiten beispielweise Papier sparen und damit nachhaltig wirksam sein. Das wäre auch eine gute Perspektive für Schule und Unterricht, wenn unzählige (Papier-) Kopien überflüssig werden könnten. Viel komplexere Zusammenhänge von künstlicher Intelligenz (KI) und Nachhaltigkeit zeigen Benedikt Lennartz und Shari Langner in ihrem ZIN Blogbeitrag auf.

Schule nachhaltig

Nachhaltigkeit im Kontext Schule kann aus unterschiedlichen Richtungen betrachtet werden. Eine papierlose Schule kann hinsichtlich der Ressourcenschonung nachhaltig sein und es gäbe sicherlich viele weitere Ideen Schule in diesem Sinn nachhaltiger zu gestalten. Zu den zentralen Aufgaben von Schule gehören vor allem eine hochwertige (nachhaltige) Bildung und zunehmend die Nachhaltigkeitsbildung. Zusammen stellen sie eine eigene Kachel in den UN-Nachhaltigkeitszielen dar (Ziel Nr. 4). Nachhaltigkeitsbildung wird dabei vornehmlich als Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) kompetenzorientiert konzeptioniert. Singer-Brodowski & Kminek (2023) stellen in einem aktuellen Stand fest, dass Nachhaltigkeit und BNE in Schule präsenter geworden sind. Zugleich verweisen sie aber auf die Notwendigkeit, die Zielsetzung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsbildung  in Schule weiter entwickeln zu müssen. Anlass dazu geben aktuelle Studien, in denen (deutsche) Schüler*innen über hohes Wissen zum Thema Nachhaltigkeit aufweisen. Im Gegensatz dazu steht jedoch, dass verhältnismäßig wenige Schüler*innen ihr Handeln auf Nachhaltigkeit ausrichten oder sich für das Erreichen von Nachhaltigkeitszielen einsetzen (Waltner et al., 2021; Diedrich et al., 2022).

Schule digital

Auch die Digitalisierung ist in Schule vorangeschritten, nicht zuletzt aufgrund des digitalen Unterrichts während der Corona-Pandemie und Initiativen wie dem Digitalpakt (Sliwka & Klopsch, 2020). Trotzdem wird weiterhin viel darüber diskutiert, ob genügend Schülerinnen und Schülern digitale Endgeräte zur Verfügung stehen oder ein schulischer Internetzugang vorhanden ist. Digitale Lernplattformen, die sich eigentlich schon vor 20 Jahren etabliert haben, sind inzwischen an den meisten Schulen vorhanden, was aber nicht bedeutet, dass diese auch entsprechend genutzt werden. Viel wesentlicher ist die Frage, wie Schüler*innen an einer Kultur der Digitalität (Stalder, 2016) partizipieren können und wie diese in den Lernprozess integriert werden kann.

Verantwortungsvolles Handeln

In meinem dritten Blick weisen Nachhaltigkeit und Digitalität weitere Parallelen auf, wenn der Fokus auf verantwortungsvolles Handeln und Gemeinschaftlichkeit gelegt wird. Die Bedeutung meiner individuellen Verantwortung wird z.B. beim ökologischen Fußabdruck adressiert, während eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 km/h auf Autobahnen die kollektive (gesellschaftliche) Verantwortung anspricht. Das „liken“ von Social Media Beiträgen ist mein individueller Klick, Behauptungen mit hunderttausenden „likes“ können plötzlich zu scheinbar kollektiven „Wahrheiten“ werden. Die Herausforderung an Bildungsprozesse stellt sich hier in dem  Ziel, Schüler*innen in die Lage zu versetzen, sich im Verhältnis der unterschiedlichen Verantwortungsebenen einordnen zu können und handlungsfähig zu werden. Gleichzeitig zeigt sich, dass sich Prozesse der Entgrenzung (Seibert-Fohr 2020) verstärken und Werteorientierungen zum Handeln in Bezug auf Nachhaltigkeit und Digitalität temporär oder uneindeutig sein können (Nassehi, 2019). Für den schulischen Kontext leitet sich die Frage ab, wodurch sich Orientierungspunkte für verantwortungsvolles Handeln ergeben können. Bohnsack (2003) schlägt vor, dass sich eine Orientierung aus der Kontinuität von Erfahrungen ergibt. Für den schulischen Kontext bedeutet das, dass Angebote zum verantwortungsvollen Handeln als soziale Praktiken zu Nachhaltigkeit und Digitalität möglichst häufig und regelmäßig erfolgen sollten.

Kritisches Denken

Im Diskurs um Nachhaltigkeit und Digitalität wird die Bedeutung einer kritisch-reflexiven Kompetenz, respektive kritisches Denken, hervorgehoben. Entsprechend ist kritisches Denken in der BNE verankert.  Kritisches Denken zeigt sich, wenn ich Mitteilungen aus den Medien oder in Social Media hinterfrage, selbst Fakten recherchiere, andere Perspektiven auf die Mitteilungen einnehme oder Zusammenhänge suche. Kritisches Denken kann dazu führen, dass ich Fake News erkenne oder komplexe Strukturen eines Themas erfasse. Gerade für die zuvor schon angesprochene Handlungsfähigkeit ist kritisches Denken eine essenzielle Voraussetzung. Auch die Selbstreflektion ist ein wichtiger Bestandteil kritischen Denkens. MacGilchrist (2017) schlägt darüber hinaus die Idee einer „critical digital literacy“ vor, in der das kritische Denken in seinem Zusammenhang mit Wertvorstellungen oder Machtstrukturen betont wird. Konkret sollen kritische Denker*innen die digitale Welt mit Konzepten wie knowledge capitalism, Individualismus oder ökologische Auswirkungen von digitalen Technologien verknüpfen und reflektieren können. Das bedeutet auch, dass sie System- und Machtverhältnisse hinterfragen. Diese Denker*innen würden darüber nachdenken und entscheiden, wie sie selbst aktiv werden können, um an der Transformation der Gesellschaft teilhaben und diese mitgestalten zu können. Schüler*innen in Schule zum kritischen Denken anzuregen, ist Bestandteil der Forschung meines Kollegen David Rott und mir.

Gerade in Situationen nachhaltigen Handelns können Dilemmata entstehen. Dilemmata sind Entscheidungssituationen, in denen komplexe und lebensnahe Probleme bewältigt werden müssen. Sie sind jedoch nicht eindeutig lösbar, weil gleichwertige Handlungsmöglichkeiten bestehen (De Haan, 2001). Wir konstruieren entsprechende Dilemmata für den Einsatz in Schule als ersten Schritt, um kritisches Denken anzuregen. Bspw. besteht ein Dilemma aus der Situation, dass eine Schülerin (Emma) ein neues Smartphone anschaffen möchte und verschiedene Aspekte wie Nachhaltigkeit, soziales Ansehen und Kosten gegeneinander abwägen soll (Kohnen & Rott, 2023). Dieses Dilemma haben wir in unterschiedlichen Unterrichtsgelegenheiten eingesetzt und haben dabei beobachtet, wie Schüler*innen stellvertretend für Emma zu Entscheidungen kommen. Nachhaltigkeit spielt für viele Schüler*innen eine wichtige Rolle bei Anschaffung eines Smartphones und die Mehrheit würde die Anschaffung eines gebrauchten Geräts bevorzugen (aber auch aufgrund der Kosten). Bei einem Teil der Schüler*innen lässt sich an den Begründungen zum Handeln kritisches Denken erkennen, allerdings sind wir überzeugt, dass der Anteil größer sein sollte. Dilemmata stellen aus unserer Sicht einen guten Anlass dar, kritisches Denken anfänglich zu adressieren.

Ein Ansatz, um Schüler*innen zum Handeln anzuregen, ist das Projekt Nachhaltige Zukunftsgestaltung (Kohnen, Fischer & Fischer-Ontrup, 2021). In diesem Projekt erhalten Schüler*innen weitgehende Entscheidungsmöglichkeiten, Aktionen und Kampagnen im Kontext der UN-Nachhaltigkeitsziele selbstgesteuert und autonom zu gestalten. Hier bieten sich den Schüler*innen Erfahrungsräume, in denen auch kritisches Denken sichtbar wird, z.B. wenn die Schüler*innen miteinander aushandeln, welche Nachhaltigkeitsziele ihnen als Gruppe wichtig sind oder wenn die Schüler*innen ihre Kampagnen mit Erwachsenen diskutieren.

Schulentwicklung

Nachhaltigkeit und Digitalität bieten ein großes Innovationspotenzial für Schulentwicklung, da Veränderungen, die durch einen demokratischen Interaktionsprozess erzielt werden, wirksamer und nachhaltiger sein können (Bergmark & Kostenius, 2009). Partizipative Strukturen sind insbesondere für Entwicklungen in den Bereichen Nachhaltigkeit und Digitalität wichtig, weil Schule und Lehrkräfte hier kein Monopol der Expertise aufweisen. Damit bietet sich die Gelegenheit, dass Schüler*innen eine gestaltende Akteur-Rolle einnehmen können und z.B. zusammen mit Lehrkräften sich Entwicklungen zu Nachhaltigkeit und Digitalität erarbeiten. Nicht zuletzt führt eine Öffnung von Schule zu einer Multiperspektivität der Schulentwicklung, weil bspw. externe Partner innovierende Impulse in Schule hineintragen können.

Im universitären Kontext von Lehrer*innenbildung entwickeln Studierende in einem Seminar an der Universität Münster mit gleichem Titel des Blogbeitrags Bilder bzw. Modelle von Schule. Stellvertretend für die vielen interessanten Ideen der Studierenden zeigt die folgende Abbildung von T. Teich, L. Stählker, O. Kösters und M. Jeronski ein Modell von Schule, in dem die Rolle der Schüler*innen als Akteure in den Mittelpunkt gestellt wird. Die klassischen Schulentwicklungsmodelle sehen Schüler*innen bei der Schulgestaltung und Entwicklung nicht als Akteure, sondern fokussieren Lehrer*innen und Schulleitungen. Die Studierenden heben hier ein Schulparlament aus allen Schulbeteiligten hervor, in dem paritätische Entscheidungen getroffen werden sollen. Eine Öffnung von Schule soll nicht nur neue Impulse und Erfahrungsräume für Schüler*innen ermöglichen, zugleich soll Schule auch in ihre Umgebung ausstrahlen. Nachhaltigkeit und Digitalität stehen hier als rahmengebende Leitbegriffe, die in einem ganzheitlichen Ansatz durch handlungsorientierte Praktiken realisiert werden sollen.

Die Abbildung wurde entwickelt von T. Teich, L. Stählker, O. Kösters und M. Jeronski, die an der Universität Münster studieren und zeigt ein Modell von Schule, in dem die Rolle der Schüler*innen als Akteure in den Mittelpunkt gestellt wird.

In diesem Modell soll deutlich werden, dass die Entscheidungsprozesse in Schule partizipativ stattfinden müssen im Sinne einer gelebten Demokratie (Biesta, 2013). Gerade im Bezug auf Nachhaltigkeit und Digitalität bietet sich hier eine besondere Chance die traditionelle Schulordnung (und Hierarchien) aufzubrechen. Die begründet sich nicht zuletzt darin, dass auch Lehrer*innen keine größere Expertise für Nachhaltigkeit und Digitalität als Schüler*innen besitzen, weshalb ein gemeinsamer Entwicklungsprozess gefordert ist. Wenn Schule diese Chance wahrnimmt, könnte sie relevante Beiträge zu gesellschaftlichen Transformationsprozessen leisten und Schüler*innen besser befähigen gestaltend teilhaben zu können.

Über den Autor:

Marcus Kohnen ist Studienrektor im Hochschuldienst an der Universität Münster. Er arbeitet im Institut für Erziehungswissenschaft im Projekt Leistung macht Schule (LemaS). Seine Themenschwerpunkte sind LemaS, Nachhaltigkeitsbildung, Kritisches Denken und digitale Lernsettings.

Literatur:

Bergmark, U. & Kostenius, C. (2009). ‘Listen to me when I have something to say’: students’ participation in research for sustainable school improvement. Improving Schools. Vol. 12 No 3, 249–260.

Biesta, G. J.J. (2013): The Beautiful Risk of Education. Boulder: Paradigm.

Bohnsack, F. (2003): Demokratie als erfülltes Leben. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Diedrich, J., Mang, J. , Patzl, S., Seßler, S., Martin, M. & Lewalter, D. (2022). Klimabewusstsein Fünfzehnjähriger in Deutschland. Vom Wissen und Können übers Wollen und Zutrauen zum Tun. Münster: Waxmann.

De Haan, J. (2001). The Definition of Moral Dilemmas: A Logical Problem. Ethical Theory and Moral Practice 4(3), 267–284. https://doi.org/10.1023/A:1011895415846.

Kohnen, M. & Rott D. (2023). Kritisches (Be-)Denken im Kontext eines Nachhaltigkeits-Dilemmas. DDS – Die Deutsche Schule, 115(2), 117-130. https://doi.org/10.31244/dds.2023.02.05.

Kohnen, M., Fischer C. & Fischer-Ontrup, C. (2021). Enrichmentprojekte zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. MNU 74 (05), 360-364.

Macgilchrist, F. (2017): Die medialen Subjekte des 21. Jahrhunderts: Digitale Kompetenzen und/oder Critical Digital Citzienship. In: Allert, H./ Asmussen, M./Richter, C. [Hrsg.]: Digitalität und Selbst. Bielefeld: transcript, 88-145.

Nassehi, A. (2019): Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München: C.H. Beck.

Seibert-Fohr, A. (2020). Einleitung: Die Regulierung von Verantwortung in entgrenzten Räumen. In: Seibert-Fohr, A. (Hrsg.): Entgrenzte Verantwortung. Heidelberg: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-60564-6_1.

Singer-Brodowski, M. & Kminek H. (2023). Zu den Zielen von Bildung für nachhaltige Entwicklung und dem Stand der Implementierung im deutschen Schulsystem. DDS – Die Deutsche Schule, 115(2), 94-104. https://doi.org/10.31244/dds.2023.02.03.

Sliwka, A. &  Klopsch,  B. (2020). Disruptive Innovation! Wie die Pandemie die „Grammatik der Schule“ herausfordert und welche Chancen sich jetzt für eine „Schule ohne Wände“ in der digitalen Wissensgesellschaft bieten. In D. Fickermann, B. Edelstein [Hrsg.], „Langsam vermisse ich die Schule …“. Schule während und nach der Corona-Pandemie. Münster: Waxmann. 216-229. https://doi.org /10.25656/01:20240.

Stalder, F. (2016): Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp.

Waltner, E.-M., Rieß, W., Mischo, C. Hörsch, C. & Scharenberg, K. (2021). Bildung für nachhaltige Entwicklung. Umsetzung eines neuen Leitprinzips und seine Effekte auf Schüler/-innenseite. Freiburg: Pädagogische Hochschule. Verfügbar unter https://phfr.bsz-bw.de/frontdoor/index/index/docId/877

WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen). (2011). Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. WBGU. https://www.wbgu.de/de/publikationen/publikation/welt-im-wandel-gesellschaftsvertrag-fuer-eine-grosse-transformation.